Alleine dafür, dass sie mit „Birds Of Passage“ den Drogenkrieg in Kolumbien an der Wurzel packen, gebührt dem Regie-Duo Cristina Gallego und Ciro Guerra höchster Respekt. Der Film zeichnet ein realistisches Bild von der Genese der Idee von Marihuana als grünes Gold ohne Antihelden oder spektakuläre Katz-und-Maus-Spiele, aber mit einer nicht minder entsetzlichen Abwärtsspirale aus Gier, Hass und Gewalt. Der harsche Realismus ist gleichsam in zauberhafter Weise von einer spirituellen Aura durchdrungen, so wie die Charaktere, die im Zwiespalt zwischen Tradition und Zukunft stetig von ihrer Schuld eingeholt werden. Um einen durchweg gelungenen Anti-Drogen-Thriller und damit ein Meisterwerk zu werden, hätten jedoch noch weitere Genre-Sicherheitsseile ausgeklinkt werden müssen.
1968 bis 1980, fünf Kapitel (oder Lieder), kurzum: „Birds of Passage“ will eine Saga sein. Das gelingt und zwar ganz ohne Blockbuster-Action oder verkrampfter Kult-Bemühungen, weil diejenigen zu Wort kommen, die am Anfang von dem stehen, was zu einem bis heute tobenden Drogenkrieg eskaliert ist. Das indigene Volk der Wayuu in Kolumbien geht im Jahr der 68er noch immer seinen überlieferten Bräuchen nach, zu Beginn des Films der Balz-Zeremonie um die nach einjähriger Abgeschiedenheit nun erwachsene und deswegen auf dem Heiratsmarkt einzusetzende Zaida (Natalia Reyes), die im Tanz der Vögel flügge wird. Nun mag diese Zeit ideell mit Frieden und der Achtung der Natur verbunden werden, doch der darin steckende Konservatismus zeigt eben auch die Anlagen für die Adaption der Handelslogik der Profitmaximierung.
Rapayet (José Acosta) will eine Rolle im Buhlen um Zaida spielen, hat jedoch weder das nötige Brautgeld parat noch ist er im Detail mit den Ritualen und Gebräuchen des Clans vertraut, in den er einheiraten zu gedenkt. Die Welt hat sich eben auch in Kolumbien weitergedreht, inklusive Autobussen und Alkohol. Seine fast mythische Reise zu verschiedenen Stellen im Land zur Sammlung der Mittel nimmt eine Abkürzung als er und sein Freund Moisés (Jhon Navaréz) auf Amerikaner*innen treffen, die angeblich dem Friedenkorps angehören und in Kolumbien vor dem Wiederaufflammen des Kommunismus warnen. Mindestens ebenso wichtig ist ihnen aber daneben der Konsum von Marihuana, für das sie bereit sind, ein kolumbianisches Vermögen auszugeben.
1968 läuft das ohne einen Markt vor Ort reibungslos, fast schon unbedenklich sieht es aus, wenn Rapayet und Moisés selbst bei der Ernte auf der überschaubaren Plantage seines Onkels aushelfen. Von dem erwirtschafteten Profit bringt Rapayet das geforderte Brautgeld in Form von Kühen, Schafen und Ketten auf, zieht bei der Übergabe jedoch den Missmut seiner künftigen Schwiegermutter Úrsula (Carmiña Martínez) auf sich: Was machst du hier? Das musst du doch vorher anmelden! Doch die Gabe ist zu verlockend, als dass die spirituelle Hüterin des Clans sich nicht auf den Deal einließe. Die Frauen halten sich in dieser Gesellschaft zurück, wenn es um die Ausführung geht, halten im Hintergrund aber die Zügel in der Hand.
Drei Jahre später hat sich die Lage im Land radikal verändert, symbolisiert durch das Ableben des Familienoberhaupts und die Einsetzung eines Jungens als dessen Nachfolger. In dieser Umbruchszeit der Generationen floriert nun der illegale Drogenhandel, der relativen Wohlstand bringt, der im Gegenzug aber andere, nicht unerhebliche Opfer fordert. Nachdem Moisés, der seinen Hang zum Lebemann nun völlig ausleben kann, im Affekt einen Amerikaner erschießt, weil ihre Handelspartner Geschäfte mit anderen machte, wird im Gegenzug ein Teil der Familie von Rapayet und dessen Onkel massakriert. Die unausweichliche Abwärtsspirale ist in Gang gesetzt, begünstigt den zunehmenden Sittenverfall und schaukelt sich im Gleichzug mit der Anhäufung von Reichtum unerbittlich zu einer Intensität bis in den Krieg hoch, der keine Regeln und keine Traditionen mehr kennt.
Es ist nach „Der Schamane und die Schlange“ der zweite Film, der aus der Kollaboration von Cristina Gallego und Ciro Guerra entstand und zum zweiten Mal werden sie dafür mit einer Oscar-Nominierung bedacht. Mit „Birds Of Passage“ kreieren sie die noch harschere Version von „City Of God“, der keinerlei Anlass zur Hoffnung findet, was unerträglich und belastend, aber konsequent ist. Der Film spiegelt die Komplexität realer Zusammenhänge inklusive uneindeutiger Verantwortlichkeiten unter den beteiligten Parteien. Sicherlich wäre ohne die Zahlungsbereitschaft der Amerikaner der Markt für Drogen erst gar nicht entstanden, andererseits wurde die Nachfrage durch die freiheitliche 68er-Bewegung begünstigt (sicherlich auf die aktuell intensivierte Klimaschutzdebatte und die Wahl der Mittel in ihren weltweiten Auswirkungen übertragbar). Während die Indigenen zweifellos in ihrer Nähe zur Natur nachhaltig wirtschaften, hält sie die Aussicht auf unverhältnismäßigen Reichtum nicht vom Zurechtbiegen der eigenen Werte und Traditionen ab. Eine erfrischend ausgewogene Darstellung von Ureinwohnern, die sonst gerne mystifiziert und in ihrer Spiritualität verniedlicht werden.
Letztendlich steht nicht so sehr die Frage im Zentrum, wer mehr und wer weniger Schuld trägt, es ist die Profitmaximierung, der Hang zur Anhäufung von Kapital und die Priorisierung zulasten des Ökosystems, die in „Birds of Passage“ kritisiert wird. Die Menschen sind in diesem Konstrukt des Kapitalismus zu Wasserträgern degradiert worden, die dem System unterstellt sind, das sie selbst entwickelt haben. Eine Idee ist mächtiger geworden als ihre Denker, was sie nicht von jeglicher Schuld freispricht, vor allem nicht, wenn sie sich trotz Bedenken in ihr einrichten oder gar eine aktive, aggressive Rolle in ihrer Verteidigung spielen.
Gegen die Verbreitung von Wohlstand ist nichts einzuwenden, doch es ist die Frage des Maßhaltens, die ihn von der Hohlheit des Reichtums trennt. Das schnelle Geld ist zweifellos verlockend, vor allem wenn zuvor ein beschwerliches Leben in der Wüste den Alltag bildete, doch was hilft der Ausbau zum grenzlosen Reichtum, wenn er all das zurücklässt, vergiftet und tötet, was Menschlichkeit ausmacht? „Birds Of Passage“ zeigt dabei erhellend, welche Rolle das Konstrukt des Clans und der Familie spielt, die in den Berichterstattungen der heutigen Zeit häufig unverständlich bleiben. Dieses geht zurück auf ebenjene Zeit der Stämme, doch ist mittlerweile von seiner eigentlichen Funktion entwurzelt. Im Laufe der Saga versuchen die Beteiligten die jahrhundertelang bewährten Weisheiten, Handlungsanweisungen und Heuristiken der Tradition anzuwenden und scheitern damit zusehends. Das hier ist etwas Neues, etwas potenziell Monströses. Und das lässt keinen Platz für mythische (Anti-)Helden à la Escobar.
Vor allem aber ist „Birds Of Passage“ eine höchstaktuelle Ermahnung, Lehren aus der Umbruchszeit um 1968 zu ziehen. Es wird gerade immer nötiger, die am Thema des Klimaschutzes, der Flüchtlingssituation und der Globalisierung offensichtlich werdende Generationenfrage anders zu klären als vor über 50 Jahren und über den Graben Brücken zu bauen. Im heutigen Kolumbien und in vielen Staaten Lateinamerikas dürfte diese Frage angesichts der instabilen Situation in verschiedentlicher Ausprägung noch weitaus wichtiger sein und die Antwort noch viel eindeutiger ausfallen: Es wird auf Bildung ankommen. Keine strenge Erziehung, sondern eine offene Bildung, die kritisches und selbständiges Denken fördert, wie sie nur durch den alltäglichen Austausch von Menschen und Kulturen, aber vor allem zwischen Eltern- und Kindergeneration etabliert werden kann. Den Rechtsextremen, den Klimaleugnern und den Drogenbaronen wird die Arbeitsgrundlage entzogen, wenn ihnen die Mitmacher ausgehen, die früh selbst gemerkt haben werden, dass der ausgeleierte Wachstumsgedanke längst nicht die einzige Struktur ist, die das Leben auf der Erde bestimmen kann.
„Birds Of Passage“ macht dabei genauso wenige Gefangene wie die Protagonist*innen im Film und treibt seine dunkle Nachricht möglichst entsetzlich und brutal auf die Spitze. Das schlaucht, denn auch die surrealen (Tag-)Traum-Sequenzen bieten nur scheinbar Erholung, suchen sie doch ihre Wirte unermüdlich im Schlechten heim. Formten sie sich zunächst als Warnungen vor dem Kommenden, brechen sie später als Halluzinationen mitten in den Tag hinein und verunmöglichen das Weitermachen. Vornehmlich sind es die heimischen Vögel, die in den Deutungen zur Wiedergutmachung aufrufen und bei fehlender Begleichung der Schulden nicht mehr von der Seite des Schuldigen weichen. Das lässt sich alles als spirituelle Idee der Natur im Gleichgewicht verstehen oder als Zeichen dafür, dass der Mensch seine Menschlichkeit doch noch nicht verloren hat.
Der angestrebte Realismus ist nicht nur von Spiritualität umgeben, sondern vermengt sich mit einer Parabel zu den genannten Angelegenheiten. Das gelingt mal virtuos, weil Zuspitzung und Bodenhaftung sich gegenseitig in einem glaubwürdigen Rahmen halten, mal stößt der Ansatz an seine Grenzen. Die Auswahl der Schauspieler*innen, die größtenteils Laiendarsteller*innen sind, die teilweise zum ersten Mal an einem Spielfilm mitwirken, verleiht „Birds Of Passage“ eine magische Authentizität, doch fehlen ein ums andere Mal die schauspielerischen Fähigkeiten, um den Figuren aus dem Spiel heraus Tiefe zu verleihen. In einer Parabel ist dies zwar nicht immer nötig, da es um den Austausch von Argumenten archetypisch gestalteter Figuren geht. Aber weder passt dies zur Komplexitätsforderung des Films noch lässt sich mit den Charakteren sympathisieren, da ihre Motivationen unbeleuchtet bleiben.
Ebenso hätte dem schieren Pessimismus des Films der eine oder andere hoffnungsvolle Tupfer gutgetan, beispielsweise in der Bearbeitung des Themas Liebe. Wenn einen doch etwas zusammenhält, dann ist es die liebevolle Beziehung zwischen menschlichen Wesen. Hier soll keine Romanze gefordert werden, auf die in ihrer Standard-Ausführung weiterhin gut zu verzichten ist. Doch selbst wenn Úrsula an ihrer Situation verzweifelt, dann hätte zumindest der Ausdruck der profunden Liebe zu ihren Kindern dieser Reaktion Tiefe verleihen können. Für einen Film, der mit den Genre-Regeln des Drogen-Thrillers spielt, finden dann doch einige Klischees und Standard-Handlungen Eingang, mit denen nicht oder nicht ausreichend gebrochen wird. Das umfasst ebenso die Kontrastierung mit Anleihen aus dem Indie-Fach, wie das Einweben von romanesken Szenen wie die „Scheiße-Fressen-für-Geld“-Szene à la Dostojewski. Andernfalls hätte „Birds of Passage“ noch sehr viel mehr Potenzial gehabt, eine aufrüttelnde Duftmarke in die Filmwelt zu setzen, die so zumindest zum Respekt vor den wahren Hintergründen aufruft.
Fazit: „Birds Of Passage“ ist die Antithese zum Action-Drogen-Thriller, der vor allem in seiner ausgewogenen Darstellung der Gegebenheiten der ersten Jahre des Drogenkriegs in Kolumbien seine Stärke findet. Jede der beteiligten Parteien ist von Schuld nicht freizusprechen, doch die Wurzel des Übels liegt im Kapitalismus, der durch die Anregung der Gier eine verheerende Abwärtsspirale bis in den Krieg in Gang setzt und Mitmacher mit (hohlem) Reichtums-Versprechungen ködert. Die harsche und unerbittliche Darstellung der Komplexität und der magischen Vermengung von Realismus und Spiritualität gelingt dem Regieduo auf beeindruckende Weise, nur stößt der Ansatz an seine Grenzen, beispielsweise wenn es um die schauspielerischen Kapazitäten der Laiendarsteller*innen oder die Figurenzeichnung geht. Auch das Drehbuch verlässt sich allzu häufig auf Genre-Standard-Narrative und -Elemente, die „Birds Of Passage“ vom Meisterwerk-Status fernhalten.
Cover © MFA+; Szenebilder © 2018 Ciudad Lunar, Blond Indian, Mateo Contreras
- Titel: Birds Of Passage – Das grüne Gold der Wayuu
- Originaltitel:Pájaros de verano
- Produktionsland und -jahr: COL, DEN, MEX
- Genre:
Thriller
Crime
Fantasy - Erschienen: 26.07.2019
- Label: MFA+
- Spielzeit:
ca. 120 Minuten auf 1 DVD
ca. 125 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
u.a.
Carmina Martinez
José Acosta
Natalia Reyes
Jhon Narváez - Regie:
Cristina Gallego
Ciro Guerra - Drehbuch:
Maria Camila Arias
Jacques Toulemonde - Kamera: David Gallego
- Schnitt: Miguel Schverdfinger
- Musik: Leo Heiblum
- Extras:
Trailer - Technische Details (DVD)
Video: 16:9 (2:39:1)
Sprachen/Ton: D, Original (Wayuunaiki, Spanisch, Englisch)
Untertitel: D
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 16:9 (2:39:1) (1080/25p)
Sprachen/Ton: D, Original (Wayuunaiki, Spanisch, Englisch)
Untertitel: D - FSK: 12
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Wertung: 11/15 dpt