Liebe 1962 (Spielfilm, DVD/Blu-ray)


Liebe in Zeiten des Materialismus, eine Farce! Was Michelangelo Antonioni zu sagen hat, ist offensichtlich… und auch wieder nicht. „Liebe 1962“ ist ein schweres, experimentelles Werk im Kleid einer Romanze, das die gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit mit einem zutiefst zynischen Blick bedenkt. In den Bildern verbergen sich allerdings genug Details und Verrätselungen, die wahlweise auf tieferliegende Befindlichkeiten der Zeit oder ästhetische Ebenen verweisen, die dem Film deutliches Tiefenprofil verleiht. (Trotzdem) Interessierte sollten bei dieser Edition jedoch aufpassen: Neue Verpackung, alter Inhalt.

Vor vier Jahren erschien „Liebe 1962“ nämlich schon einmal bei Arthaus und ist in dieser Verpackung auch noch verfügbar. Im Falle der DVD-Version handelt es sich bei der neuen Edition gar um eine Umetikettierung, die alte „Arthaus Retrospektive“-Version wurde einfach in die neue weiße Corporate Design-Hülle eingelegt. Das ändert jedoch nichts an der Qualität der Edition, geschweige denn natürlich am Film selbst. Antonionis achter Film sieht anno 2019 beziehungsweise 2015 wunderbar aus und weiß sein Publikum noch immer zu fordern.

Vittoria (Monica Vitti) und ihr Freund Riccardo (Francisco Rabal) stehen sich sprachlos gegenüber, als der Film zu ihnen findet. Aufgezerrt von einer Streit-Nacht ist die Kommunikation zwischen den Liebenden zusammengebrochen, Vittoria scheitert trotz ihrer Tätigkeit als Übersetzerin an der Erklärung, warum sie keine Liebe mehr für Riccardo empfindet. Dieser versteinert, versucht später jedoch unermüdlich, Vittoria von ihrem unverständlichen Entschluss abzubringen, wird dafür fast zum Stalker. Doch die schöne Dame bleibt hart und sucht den Kontakt zu ihrer Mutter (Lilla Brignone). Sie ist für gewöhnlich an der Römer Börse zu finden, wo sie als Durchschnitts-Italienerin dem Zockertum verfallen ist.

Für das Wohl und Weh ihrer Tochter interessiert sie sich kaum, wichtiger ist ihr der Handel im lauten Etablissement Börse, das den Gedanken der Profitmaximierung auf die nervenaufreibende Spitze treibt, alles pulsiert und schreit um den besten Preis in einem virtuellen Handelszusammenhang. In dem Tumult lernt Vittoria den jungen Makler Piero (Alain Delon) kennen, der seinen Job bislang recht gut zu machen scheint, was ihn wenig vertrauenswürdig erscheinen lässt. Irgendwann finden die beiden zumindest körperlich zusammen, doch wirklich nah kommen sie sich nicht.

„Liebe 1962“ ist eine Geschichte über die Entfremdung einer Gesellschaft, die sich im Übergang zweier Epochen befinden. Als Abschluss einer Trilogie bestehend aus „Die mit der Liebe spielen“ und „Die Nacht“ bildet der Film den Endpunkt einer Abwärtsspirale, in der Liebe über das Verlernen von Kommunikation zunehmend ausgehöhlt wird. Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg an der Seite von Nazi-Deutschland erlebt Italien einen wirtschaftlichen Aufschwung, der über Börsengeschäfte Wohlstand für die Gewieften bringt. Angewiesen sind sie auf frisches Kapital und so versuchen die Makler auch den kleinen Mann und die kleine Frau vom Einstieg in den Aktienhandel zu überzeugen, die angesichts des Traums von ein bisschen Wohlstand häufig bereitwillig einsteigen. Small Talk und Schmeicheleien werden zu Gesten der Geschäftigkeit, zu Funktionen des Marktes denn zu menschlicher Emotionsarbeit.

Antonioni wird nicht müde, dieses Geschäftsmodell zu verteufeln und zu betonen, dass es nur das Schlechteste aus den Menschen kitzelt. Ein bisschen Wohlstand reicht natürlich nicht, nach kleinen Erfolgen ist der Anleger am Haken und schreit am lautesten, wenn er beim Börsencrash alles verliert. Alle sieben Todsünden werden in „Liebe 1962“ dem Aktienhandel angehängt und die Zuschauenden mögen nicht recht widersprechen. Die Börse wird als strenger, höllisch lauter und hektischer Moloch inszeniert, in dem es niemand lange aushält, der nicht davon eingenommen ist, was dort passiert: Eine wirkungsvolle Präventionsmaßnahme.

Doch wie bei jedem Zyniker steckt hinter dem abschätzigen Blick Antonionis auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit die Hoffnung, dass der Mensch an sich zu Besserem in der Lage ist. Alle im Film auftauchenden Figuren wirken in ihren Antrieb zur Erlangung Reichtum hohl und orientierungslos. Das rührt daher, dass in „Liebe 1962“ die Zeitenwende eingesetzt hat, die alte Zeit abgehakt ist, die Leid und Elend gebracht hat. Doch weder ist die neue Zeit wirklich besser, wenn Wohlstand mit Reichtum verwechselt wird, noch war früher alles schlecht, vor allem in Hinblick auf Gefühle und Werte.

Doch Vittoria, Riccardo und Piero, die jungen Leute, deren Zeit gerade begonnen haben müsste, spüren das entstandene Vakuum, ohne es reflektieren zu können. Das können sie auch gar nicht, sind Orientierungspunkte angesichts des Fehlens einer vergleichbaren gesellschaftlichen Situation nicht gegeben. Entweder sie laufen mit, brechen in kindisches, sprunghaftes Verhalten aus oder sie werden zerrissen zwischen den auseinanderdriftenden Polen. Für Liebe ist da kein Platz, obwohl sich die jungen Leute in ihrem Namen immer wieder anziehen und abstoßen. Eine Beziehung gehört zu einem erfolgreichen Leben dazu, doch sie wird in Zeiten der Konsumgesellschaft unter dem Mantra von „Zeit ist Geld“ ebenfalls fetischisiert.

Für Piero ist Vittoria eine unter vielen Liebschaften, die er herzlos und ohne erkennbaren Grund wechselt. Es mag schon sein, dass er etwas Besonderes in ihr findet, doch das kann er ebenso wenig reflektieren wie kommunizieren. Vittoria ist schön, träumerisch und anhänglich, wenn sie an die Liebe glaubt, doch ist sie einmal ausgelassen, wird sie entweder gleich unvorsichtig und tritt moralisch fragwürdig auf oder über sie bricht plötzlich eine raumgreifende Melancholie ein. An den Frauen des Films wird besonders deutlich, wie sehr der Materialismus das Menschsein korrumpiert: Sie sind Objekte der Begierde, Ware Liebe statt wahre Liebe auf dem Partnerschaftsmarkt, ein Investment. Wenn die Frauen ohne ihre Männer mal unter sich sind, zeigen sie ihre hässliche Fratze, aus Langeweile entsteht hohler Konsum, Sinnlosigkeit, Sensationsgier, Schaulust und schließlich auch Rassismus.

Der Profit ist der einzige Antrieb in dieser Zeit, der sich schnell als hohl entlarvt, doch er reicht auch so nicht aus, um denjenigen ein Fundament zu bieten, die nach etwas Profunderem streben als nach unstillbaren Reichtums-Fantasien. Doch das Marktprinzip des Aktienhandels überträgt sich auf die Marktteilnehmenden, was die Gesellschaft nachhaltig vergiftet. Nicht nur siedeln sich rund um die Börse Wirtschaftszweige wie Taxi-Unternehmen und Bars an, die sich an den Stress und den rauen Ton irgendwie anpassen können. „Zeit ist Geld“ sorgt für Stress, Genauigkeit, Optimierungstendenzen, Risiken müssen minimiert werden, wodurch der Zufall auf der Strecke bleibt. Für Antonioni ist das der Tod der Menschlichkeit, die über die fehlende Streitkultur zerbricht. Ohne Lösung bleibt im besten Fall nur Stillstand und so versteinert in „Liebe 1962“ die Zeit.

Antonionis Inszenierung geht an die Substanz, sie ist laut, schwer, repetitiv und in ein bedrückendes Schwarz-Weiß getaucht. Während die Kerngeschichte offensichtlich zu entschlüsseln scheint, weist „Liebe 1962“ durch die Herangehensweise des Regisseurs aber noch tiefergehender Strukturen auf. Antonioni findet Einstellungen, in denen etwas lauert, Bildkompositionen, die sich jedoch nicht aufdrängen. In der Betrachtung von Beton, Reihenbauten und menschlichen Gesichtern in Nahaufnahme lassen sich einfache Deutungen ausmachen, auf einer tieferen Ebene reichen die Interpretationen bis zu einem reinen Ästhetizismus, wie Filmhistoriker Jose Moure im Bonus Material erläutert. Dies mündet im unkonventionellen Ende des Films, das auf die sozialen Gegebenheiten im Jahr 1962 um Atomangst, Landflucht und Ausbeutung der Natur verweist, bis zum Sonnenuntergang („L’eclisse“ heißt der Film in Original). Es kann aber genauso als poetischer Schlusspunkt aufgenommen werden, der den Film auf einer Rezeptionsebene zusammenfasst, die ausschließlich auf einer ästhetischen Empfindung basiert, wie sie nur der Film anzusprechen vermag.

Fazit: „Liebe 1962“ ist ein fordernder Film, der von der Entfremdung der Gesellschaft zwischen zwei Epochen erzählt. Michelangelo Antonioni inszeniert die Auswirkungen des durch den Aktienhandel und das Nachkriegsvakuum in Italien explodierenden Materialismus auf die Menschlichkeit und die Liebe. Aus dem Film spricht wenig Hoffnung und bildet überdies den Schlusspunkt einer Trilogie, die im Sonnenuntergang endet, obgleich Antonioni in seinem Zynismus daran glaubt, dass der Mensch zu Besserem in der Lage ist. Der Filmemacher füllt die Leere mit Experimenten, die es zu rezipieren gilt, vor allem in ästhetischer Hinsicht. Einzig die Umetikettierung einer frühen DVD-Version sollten Interessierte vor dem Kauf bedenken.

Szenebilder und Cover © Arthaus

  • Titel: Liebe 1962
  • Originaltitel: L’Eclisse
  • Produktionsland und -jahr: ITA/FRA 1962
  • Genre:
    Drama
    Romanze
  • Erschienen: 01.08.2019
  • Label: Arthaus
  • Spielzeit:
    ca. 120 Minuten auf 1 DVD
    ca. 126 Minuten auf 1 Blu-Ray
  • Darsteller:
    u.a.
    Alain Delon
    Monica Vitti
    Francisco Rabal
    Louis Seigner
  • Regie: Michelangelo Antonioni
  • Drehbuch:
    Michelangelo Antonioni
    Elio Bartolini
    Tonino Guerra
    Ottiero Ottieri
  • Kamera: Gianni di Venanzo
  • Schnitt: Eraldo da Roma
  • Musik: Giovanni Fusco
  • Extras:
    Der Filmhistoriker José Moure über “Liebe 1962”, Trailer
  • Technische Details (DVD)
    Video:
    1,85:1
    Sprachen/Ton
    :
    D, IT
    Untertitel:
    D
  • Technische Details (Blu-Ray)
    Video: 1,85:1 (1080/24p Full HD)
    Sprachen/Ton
    :
    D, IT
    Untertitel:
    D
  • FSK: 16
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite

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