„Deutsche können vor allem Nazis.“ Das stimmt so nicht mehr, doch der deutsche Film beschäftigt sich noch immer gerne mit der Vergangenheit des eigenen Landes. Aus Aufarbeitung ist Lust auf Nostalgie geworden, auch die Behauptung von fehlendem Mut zu Innovation und Zukunft ist nicht haltlos. Nun ist diese Aussage natürlich pauschal, denn nicht jeder geschichtsträchtige Stoff wird in deutschen Händen automatisch zu ernster Langeweile. Trotzdem sticht Kilian Riedhof hervor und schafft mit „Gladbeck“ ein Stück Fernsehen, das aufhorchen lässt und 30 Jahre nach der schockierenden Tat jeden nach seiner Rolle fragt – auch den Zuschauenden.
Über den üblichen Weg als Drehbuchautor und Regisseur für verschiedenste Krimiserien des öffentlich-rechtlichen Fernsehens machte Riedhof 2011 mit dem außergewöhnlichen Fernsehfilm „Homevideo“ auf sich aufmerksam. Preisverwöhnt wird er seitdem vornehmlich mit größeren Produktionen zwischen Kino und Fernsehen betraut: 2013 gelang ihm mit „Sein letztes Rennen“ ein Überraschungserfolg rund um Dieter Hallervorden, 2016 schwenkt er dann zu historischen Stoffen um und beschäftigte sich mit dem „Fall Barschel“.
Riedhof erhob ausdrücklich keinen Anspruch auf Wahrheit und nahm damit zumindest manch einer Kritik den Wind aus den Segeln. Genauso verfährt er nun mit „Gladbeck“ und einem Ereignis, das sich bis heute aufgrund seines Aberwitzes im kollektiven Gedächtnis der Deutschen festkrallt. Ein aus dem Ruder laufender Banküberfall im August 1988 machte die sonst eher unbekannte Ruhrgebietsstadt über Nacht und bis heute berühmt, obwohl die Geschichte dort nur ihren Anfang nahm. Hans-Jürgen Rösner (Sascha A. Geršak) und Dieter Degowski (Alexander Scheer) überfallen am frühen Morgen eine Bankfiliale, werden jedoch zufällig entdeckt und sehen sich schon bald mit einer ganzen Kompanie an Polizisten und Kamerateams der Presse konfrontiert.
Aus dem Überfall wird eine Geiselnahme und durch die verwinkelte Architektur der Filiale und die Null-Risiko-Anweisung des Ministers wird von einem Zugriffsversuch vor Ort abgesehen. Stattdessen bekommen die Geiselnehmer einen Fluchtwagen gestellt, mit dem es ihnen tatsächlich gelingt, immer wieder unterzutauchen. Während sich die Polizei im heillosen ermittlungstaktischen Durcheinander zwischen Weisungen, Strategien und Zuständigkeiten verheddert, ist die Presse den Kriminellen auf der Spur und spielt in ihrer Lust auf das beste Bild eine bedenkliche Rolle. Nach absurden, surrealen Situationen in Bremen, den Niederlanden und Köln, findet die dreitägige Irrfahrt auf der Autobahn ihr tragisches Ende.
Kilian Riedhof inszeniert den unglaublichen Kriminalfall auf für deutsche Verhältnisse mutige, weil moderne Weise, die ihre Vorbilder zitiert, dabei aber nicht allzu verkrampft vorgeht. „Gladbeck“ ist laut und malt mit bunten Farben, verfügt über einen Soundtrack, der 80er und Gegenwart verbindet und ist vor allem packend erzählt. Knapp drei Stunden läuft der Zweiteiler, hätte hier und da sicher gekürzt werden können, hält sein Spannungslevel trotz des bekannten Ablaufs aber durchgehend. Riedhof macht es sich zur Aufgabe, den Fall 30 Jahre später in seiner Wirkung als deutsches Trauma aufzuarbeiten, was ihm von einigen KritikerInnen und Angehörigen der Opfer jedoch als Sympathiebekundung für die TäterInnen ausgelegt wird.
Ja, „Gladbeck“ ist ein Thriller, für den der Stoff dementsprechend dramaturgisch bearbeitet wurde, doch dem Regisseur liegt vor allem daran aufzudecken, wie die Bühne für die bis heute anhaltende Gladbeck-Faszination seinerzeit bereitet worden ist. Fehler auf Seiten der Polizei und die Gier der Presse brachten Rösner, Degowski und ihre Mittäterin Marion Löblich (Marie Rosa Tietjen) sowie vor allem das Opfer Silke Bischoff (Zsá Zsá Inci Bürkle) zueinander, ermöglichten absurde Situationen und produzierten unglaubliche Bilder. Das alles wirkte wahrscheinlich deswegen so traumatisierend, weil Bilder von mit Waffen bedrohten Geiseln nicht grundlos aus der Öffentlichkeit gehalten werden und eher in Filmen auftauchen. Der Gladbecker Banküberfall wurde zu einem wahrgewordenen Film, was die eigentliche Perversion der Situation darstellt. „Gladbeck“ will den Geist wieder einfangen und durch Film Realität aufarbeiten. Ob das funktioniert, wird ein weiteres Mal die Zeit mit sich bringen, einen weiteren nüchternen Spielfilm hätte es jedenfalls nicht gebraucht.
„Gladbeck“ ist unterhaltsam, ruft aber durchweg ein Kopfschütteln hervor, sei es über das Versagen der Behörden und der Medien oder über die eigene Reaktion zu dem gerade Gesehenen. Dieser Zwiespalt zwischen Faszination und Ekel macht auch „The People vs. O. J.“ aus, das das medial verbreitete Phänomen O. J. Simpson in seiner Genese beleuchtet. Gerade in gegenwärtigen Zeiten des Internets und der Fake News sollte die Rolle der Medien gerade in kriminellen Situationen wie Anschlägen und Terrorakten aufs Neue hinterfragt werden. Letztendlich führt die Spur nämlich immer zum Zuschauenden selbst zurück: Welche Rolle spiele ich bei der Perversion der Welt?
„Gladbeck“ gelingt das, weil dem Zweiteiler der Spagat zwischen Realität und Fiktion glückt. Geršak und Scheer sind als eher weniger bekannte Schauspieler gecastet worden, um keine von einer Starbesetzung ausgelösten Erwartungen zu wecken. Rösner und Degowski spielen sie überzeugend, weil sie ihre Ruhrpott-Art authentisch und ohne Peinlichkeit verkörpern. Der Mix aus nachgespielten Fernsehszenen und den (teils fiktiven) Sequenzen dazwischen fügen die Absurdität zumindest insofern zusammen, dass daraus ein nachvollziehbares Bild über das Zustandekommen der Ereignisse entsteht.
Außerdem ist „Gladbeck“ einfach gutes Fernsehen, wie man es in Deutschland zu häufig vermisst. Riedhof entwickelt einen konsistenten Stil, der Selbstbewusstsein ausstrahlt. Zu Beginn vergreift sich der Filmemacher etwas im Ton und auf die eine oder andere Zeitlupe hätte er gut und gerne verzichten können. Gerade bei den Seitenplots ruckelt es etwas, aber zumindest greift er dabei nicht auf unsägliche Rückblenden zurück. Ansonsten überzeugt Riedhof mit „Gladbeck“ und sollte sich auch künftig in großen Produktionen beweisen dürfen.
Fazit: „Gladbeck“ ist ein Filmprojekt, wie es häufiger von den Rundfunkgebühren gefördert werden sollte. Kilian Riedhof gelingt ein spannender Zweiteiler, der das deutsche Trauma von „Gladbeck“ aufzuarbeiten gedenkt. Das gelingt ihm vor allem deswegen, weil auch der Zuschauende in seiner Rolle hinterfragt, der im besten Fall ganz eklig findet, dass er das gerade Gesehene mit Spannung verfolgt. Stil, Soundtrack und schauspielerische Leistungen überzeugen genauso wie Riedhofs gesamte Regieleistung. Hier und da hätte der Filmemacher kürzen und noch selbstbewusster vorgehen können, am Ende steht aber ein großartiger Kriminalfilm, der deutsche Geschichte mutig und packend bearbeitet.
Cover und Szenebilder © polyband
- Titel: Gladbeck
- Produktionsland und -jahr: D, 2017
- Genre:
Thriller
Historiendrama
- Erschienen: 09.03.2018
- Label: polyband
- Spielzeit:
176 Minuten auf 1 DVD
176 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
Sascha A. Geršak
Ulrich Noethen
Alexander Scheer
Martin Wuttke
Marie Rosa Tietjen
Zsá Zsá Inci Bürkle - Regie: Killian Riedhof
- Drehbuch: Holger Karsten Schmidt
- Kamera: Armin Franzen
- Schnitt: Ueli Christen
- Musik: Peter Hinderthür
- Extras:
Making Of
- Technische Details (DVD)
Video: 16×9 anamorph (2,39:1)
Sprachen/Ton: D
Untertitel: D
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 16×9 anamorph (2,39:1)
Sprachen/Ton: D
Untertitel: D
- FSK: 12
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Wertung: 12/15 dpt