[Diese Kritik erscheint in Kooperation mit musikreviews.de]
Konflikte sind in die IRON MAIDEN-DNA eingeschrieben. Krieg und gewaltsame Auseinandersetzungen bilden das lyrische Rückgrat der britischen Heavy Metal-Legende, und auch innerhalb des Bandgefüges kam es immer wieder zu (fruchtbaren) Meinungsverschiedenheiten. Diese führten 1993 schließlich zum Ausstieg von BRUCE DICKINSON, der fortan seine Solokarriere vertiefte. Er umgab sich mit jungen Musikern und wagte im Jahr darauf im Rausch der jugendlichen Abenteuerlust eine Reise in das im Krieg befindliche Bosnien. „Scream For Me Sarajevo“ beschäftigt sich aber gar nicht so sehr mit dem Tausendsassa, sondern findet eine angenehme Ausgewogenheit zwischen den verschiedenen Beteiligten. Wenn man so möchte, hat Filmemacher Tarik Hodzic einen professionellen Fan-Film geschaffen, der Vorhersehbares zu einer einfühlsamen Liebeserklärung werden lässt.
Wie in den meisten ehemaligen Ostblockstaaten war nach dem Zerfall der Sowjet-Union auch Jugoslawien von einer gefährlichen Instabilität geprägt. Die verschiedenen ethnischen Gruppen trieben auseinander und verfolgten unterschiedliche Wege bei der Bewältigung der Krise. Bosnien und Herzegowina strebten die Unabhängigkeit an, während sich die verbliebenen jugoslawischen Teilstaaten unter Führung Serbiens darum bemühten, die Bundesrepublik zusammenzuhalten. So ist die stark heruntergebrochene Version der Großwetterlage zu beschreiben, die im April 1992 in einen komplexen Krieg mündete, der über drei Jahre andauern sollte. Schätzungen zufolge kamen 100.000 Menschen ums Leben, auf bosnisch-herzegowinischer Seite gar mehr Zivilisten als Soldaten.
Dieser schreckliche Krieg mitten in Europa hat vor gerade einmal 22 Jahren sein Ende gefunden, die Wunden heilen immer noch langsam. Das zeigt „Scream For Me Sarajevo“, einer politischen Bewertung entzieht er sich aber glücklicherweise. Viel interessanter als propagandistische Schuldzuweisungen ist die schockierende Beleuchtung des Alltags, der kaum mehr als solcher zu bezeichnen war. Rennende und sich duckende Menschen, die sich vor Scharfschützen, Gewehrsalven und Granaten zu schützen suchten, bieten ein eindrucksvolles Bild von der Furchtbarkeit des Krieges, universell und ganz unabhängig von den Hintergründen. Das gilt auch für die Einsicht, dass sich die Menschen nicht vom Krieg unterkriegen ließen und trotzdem versuchten, ihrem Leben nachzugehen.
Zu Beginn beschäftigt sich Filmemacher Tarik Hodzic mit den KünstlerInnen der Stadt, die ihre je eigenen Geschichten zu erzählen haben. Das mag erst einmal zerfahren wirken, doch wenn sich am Ende des Films dann fast alle wiedertreffen, wird die Kreuzung der Lebenswege 2017 und 1994 parallelisiert. Dieser Kunstgriff unterstreicht, wie identitätsstiftend die Erfahrung war, die von Bruce Dickinson und seiner Crew ermöglicht wurde. So vorhersehbar das erzählte Geschehen sich auch zutrug, so sehr ist es der Verdienst von Hodzic, die richtigen Akzente in den Vordergrund zu stellen.
Bruce war gerade bei IRON MAIDEN ausgestiegen, suchte mit Mitte 30 eine neue Soloherausforderung und stellte die Band SKUNKWORKS zusammen mit Mitstreitern im Alter von Anfang 20. Auch deswegen kommt die Vermutung auf, die Reise nach Sarajevo könnte eine von jugendlicher Abenteuerlust geleitete Schnapsidee gewesen sein. An den Reaktionen der gealterten Musiker im Film ist allerdings zu merken, dass sich die Grenzerfahrung auf die Persönlichkeit ausgewirkt hat. Heute wird viel über die verrückten Anekdoten gelacht, aber es wird eben auch um Fassung gerungen.
Die Erzählungen der bosnischen KünstlerInnen fügen dem Film eine weitere essenzielle Ebene hinzu. Berichte von fehlender Elektrizität sowie getöteten Geschwistern und Freunden erzeugen ein Bild von unmenschlichen Verhältnissen, wie sie im Europa der 1990er-Jahre eigentlich unvorstellbar hätte sein sollen. Eindrucksvoll ist auch die Vorstellung, dass Kunst und Kultur in dieser Zeit kein Raum eingeräumt wurde, was wiederum deutlich macht, welch wichtige Funktion sie in einer Gesellschaft übernehmen. Möglich machten den Auftritt zudem einige Befehlshaber, die die Band praktisch nach Sarajevo schmuggelten, da jeder andere Weg zu gefährlich gewesen wäre. „Scream For Me Sarajevo“ ist in diesem Sinne ein großes Dankeschön an alle, die damals eine dringend gebrauchte Realitätsflucht ermöglichten.
Natürlich trägt der Film eine weitere Schicht Verklärung auf das Geschehene auf, doch einerseits findet er dabei eine angemessene Dosierung. Andererseits kann er auch nur auf diese Weise klarmachen, warum der Besuch eines Menschen solch eine Wirkung haben kann, wie Bedeutung konstruiert wird und Niederschlag im Leben des Einzelnen finden kann. Einen größeren Liebesbeweis für einen Künstler wie Bruce Dickinson kann es folglich kaum geben. Auch durch seine Taten umgibt den Sänger eine besondere Aura, die ihn zum Idol werden lässt. Zwar sollte man vorsichtig sein, die öffentliche mit der privaten Person gleichzusetzen und über Fehler hinwegzusehen, doch nach „Scream For Me Sarajevo“ ist es verständlich, warum auf der ganzen Welt zu Dickinson aufgesehen wird.
Trotz der professionellen Machart inklusive atemberaubender Einstellungen und des aus IRON MAIDEN- und BRUCE DICKINSON-Stücken bestehenden Soundtracks (Kritik auf musikreviews.de) gelingt es Tarik Hodzic, einen authentischen Fan-Film zu kreieren, der mehr leistet als die meisten anderen Verneigungen. „Scream For Me Sarajevo“ ist wahrlich ein Werk von Fans für Fans, das alle Seiten des Beziehungsgeflechts einbindet und feiert. Sicher ist der Film formal betrachtet kein Meisterwerk, aber eben eine Besonderheit, die die Kraft des Fan-Seins zelebriert – und auch das Menschsein.
FAZIT: „Scream For Me Sarajevo“ rekonstruiert die Ereignisse rund um das BRUCE DICKINSON-Konzert, das 1994 in der belagerten bosnischen Hauptstadt stattfand. Dabei legt Regisseur Tarik Hodzic aber weniger Wert auf den Star und die detaillierte Aufarbeitung des Bosnienkriegs, als vielmehr auf die Beleuchtung der subjektiven Erfahrungen der Beteiligten. Formal setzt der Film keine Maßstäbe, dafür kommt er von Herzen und leistet mehr als viele andere Musikfilme. „Scream For Me Sarajevo“ ist eine tiefe Verneigung seitens der Fans vor allen, die das Konzert möglich machten und den Glauben an die Menschlichkeit wiederherstellten.
Fotos und Cover © Oktober Promotion
- Titel: Scream For Me Sarajevo
- Produktionsland und -jahr: BOS, 2017
- Genre:
Dokumentation
Musikfilm
- Erschienen: 29.06.2018
- Label: Eagle Vision/Universal
- Spielzeit:
95 Minuten auf 1 DVD
95 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
Bruce Dickinson
Skunkworks
- Regie: Tarik Hodzic
- Drehbuch:
Tarik Hodzic
Jasenko Pasic
- Kamera: Amel Djikoli
- Schnitt: Tarik Hodzic
- Musik:
Bruce Dickinson
Iron Maiden
- Extras:
– - Technische Details (DVD)
Video: 16:9
Sprachen/Ton: GB, BOS
Untertitel: D, F, GB, SP, POR (BR)
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 16:9
Sprachen/Ton: GB, BOS
Untertitel: D, F, GB, SP, POR (BR) - FSK: 12
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Wertung: 12/15 dpt