Helmut Krausser – Geschehnisse während der Weltmeisterschaft (Buch)

Helmut Krausser - Geschehnisse während der Weltmeisterschaft Cover © Berlin VerlagWer weiß schon, was ein Spog, Prispog, Orastimas oder ein Orasticon ist? Leon, der über sich selbst sagt: „Ich ficke zuviel“ weiß so etwas, und so lassen wir ihn kurz sein Wissen kundtun: Ein Spog ist die Abkürzung für „Sportgerät“, Prispog, das sowohl in der männlichen wie weiblichen Version auftauchen kann bedeutet primäres Sportgerät, womit in der männlichen Version der Penis, in der weiblichen die Vagina gemeint sind. Orastinas sind „Anbläserinnen“ und Orasticon (Oral Stimulation Contest) „war das neue Wort für das Abmelken mit dem Mund“.

Es geht um Helmut Kraussers Roman ‘Geschehnisse während der Weltmeisterschaft‘, Leistungssex – nicht in der Porno-Branche, sondern als Leistungssport mit öffentlich ausgetragenen Wettkämpfen. Wir befinden uns im Jahre 2028. Leon ist fester Bestandteil und Leistungsträger des Teams, das bei der 11. WM die deutschen Farben bei der WM repräsentiert.

Absolute Körperbeherrschung, Konzentration und Funktionieren nagen an allen Teilnehmern, doch ganz besonders an Leon, der zu den absoluten Weltstars der Sportart gehört, dem es äußerlich an nichts mangelt. Mürrisch ist er, das bekommt der Leser gleich auf den ersten Seiten zu spüren: „Los gehen Sie. Verpissen Sie sich!“ Ja fast alle Protagonisten Helmut Kraussers besitzen dieses unnachahmlich dünne Nervenkostüm, das in diesem Roman wieder einmal ganz besonders deutlich zum Vorschein kommt. Natürlich ist Leon ein Kenner und Connaisseur klassischer Musik und Kultur – und natürlich finden wie auch in diesem Roman eine schon fast zärtliche Liebesgeschichte mit zahlreichen Verweisen auf die klassische europäische Literatur- und moderne transatlantische Filmgeschichte.

Der Rezensent hört sie schon, die lauten Fragen: Zärtliche Liebesgeschichte – es geht doch um Ficken, Abmelken, Hämmern, Nageln, Bohren…? In der Tat ist das poetische Gefälle von Krausser beinahe ausgereizt. Hinter der Fassade des Sportfickens versteckt sich die tiefe innere Zerrissenheit des Protagonisten Leon auf der Suche nach den Gefühlen und der Liebe. Müssen Sex und Liebe unbedingt einhergehen? Kann nicht ein jedes irgendwie für sich alleine stehen? Gibt es Eros ohne Thanatos oder nur im Verbund? Eros und Thanatos, Eros im Thanatos? Kraussers Themenkomplex also.

Während Leon dieser Frage nachgeht, kommt der Leser in den Genuss von Sportreportagen, die den Turnierverlauf genau und hochspannend wiedergeben, die auch auf die kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Jahre 2028 eingehen. Aus den so geliebten „besorgten Bürgern“ sind Gruppen selbstbewusster Bürger geworden, Attentate während sportlicher und gesellschaftlicher Großereignisse sind inzwischen wie selbstverständlich eingepreist, und der Islamismus sowie das Christentum spielen hierbei natürlich auch weiterhin eine Rolle, ebenso wie die Reizwörter Hitler, Wagner, Bruckner. Ja, man kann ‚Geschehnisse während der Weltmeisterschaft’ auch als Utopie/Dystopie lesen. Muss man aber nicht. Dafür ist das nicht wirklich ausgearbeitet. Substanzieller sind hier noch die von feiner Satire durchzogenen Szenen, in denen es um die Funktionärsebene und die entsprechenden Rangeleien geht.

Aber eigentlich ist dieser Roman ein im besten Sinne ganz normaler Liebesroman, zur Hälfte sogar ein „Brief“-/E-Mail-Roman. Kunstvoll, wie von Krausser gewohnt, fast schon eine Fingerübung, eine Etüde, leicht beschwingt dahingeschrieben – so wirkt es zumindest beim Lesen –. Es ist und bleibt immer wieder faszinierend, wie elegant es Krausser gelingt, mit scheinbar unscheinbaren dabei hochaufgeladenen Symbolen und Metaphern Bedeutungsebenen und Referenzböden zu schaffen, die Nuancen um Nuancen aufhäufen. Diese muss man nicht erkennen, um Spaß an der Lektüre zu haben. Doch jeder Literaturwissenschaftler, der was auf sich hält, ist ein Wanker und kommt aus selbigem kaum raus.
Befriedigung und Spaß sind – auch bei der Lektüre – garantiert, sofern die im ersten Absatz angedeutete pseudopornöse Fachsprache nicht abschreckt.

Cover © Berlin Verlag

Wertung: 11/15 dpt

 

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