Musik für die Raumstation #3: Jon Hassell/Brian Eno: Fourth World, Vol. 1: Possible Musics (Vinyl, 1980)


Ich bewundere all die Blogger, Journalisten und Musikkommentatoren, die über Jon Hassell und sein epochales Album Fourth World, Vol. 1: Possible Musics schreiben. Das Internet ist hierbei nicht sparsam mit Aufsätzen, Artikeln und tiefschürfenden Analysen. Die Rede ist oft von ethnographischen, kunsthistorischen und soziologischen Dimensionen. Und ich lese all das außerordentlich gerne und mit einer ungebrochenen Faszination, tiefversunken und stetig nickend. Ein wenig neide ich den Autoren ihre Fähigkeit, eine Schallplatte in den Kontext von Claude Lévi-Strauss zu bringen. Oder Stockhausen. Oder Marshall McLuhan. Und dann ist da natürlich Brian Eno. Seine Fingerabdrücke sind überall auf diesem Album, doch damit sind wir schon auch bei den interessanten Problemen, welche diesen Kult-Beitrag umweben. Dazu später mehr.

Ich möchte mich mit diesen Zeilen doch eher an jene wenden, die von diesem Ausnahmemusiker noch nicht gehört haben. Für den Anfang ist wichtig anzumerken, dass Jon Hassells Musik auch ohne jeglichen kulturhistorischen Überbau großartig funktioniert. Man muss kein Musikwissenschaftler, oder gar ein Ethnologe sein, um diesen Sound zu lieben. Mit dieser Musik verhält es sich wie mit Träumen – sie laden zwar zur Analyse ein, doch ist diese für das Individuum nicht so wichtig wie der Vorgang selbst. Es ist zwar wichtig, nachts zu träumen, doch es ist nicht im selben Maße wichtig, Traumdeutung zu betreiben.

Und so wie man für das Träumen eine gute Mütze Schlaf braucht, benötigt man für eine Reise in die Welt von Jon Hassell ein wenig Fernweh und ein Ohr, das sich auch mal gerne nach etwas Abenteuer sehnt. Fürs Erste muss man sich von der Welt der Refrains und Hooklines verabschieden. Damit betritt man eine klangliche Landschaft, die fern aller aufdringlichen, neurotischen Motive und Ohrwürmer liegt. Vereinfacht gesagt, ließe sich Fourth World, Vol. 1: Possible Musics als ein Ambient-Album definieren. Doch während Ambient häufig die Leere zum Mittelpunkt der akustischen Reise macht, erschafft Jon Hassell aus dem Klang seiner Trompete ganze Felsmassive und Flussläufe.

Nein, ich habe mich nicht vertippt – Jon Hassells Instrument ist die Trompete. Wer hierbei allerdings an den Morgenappell eines Pfadfinderlagers denkt, dürfte sich schnell wundern.

Trompeten sind Blechblasinstrumente, die sich zumindest in der populären Gegenwartswelt kaum einer besonderen Beliebtheit erfreuen – sieht man von der plötzlichen Balkano-Euphorie der späten 90er ab. Doch Jon Hassell (Jahrgang 1937) mag aus Memphis, Tennessee stammen und damit unweigerlich Wurzeln in der Jazzmusik haben, seine musikalische Prägung fand in New York statt, wo er nicht nur eine Musikhochschule absolvierte, sondern auch mit Diplom abschloss.

Jon Hassell beim Stockholm JazzFest’09

Er studierte unter Karlheinz Stockhausen an der Musikhochschule Köln und spielte auf der bahnbrechenden Scheibe In C von Terry Riley mit. Bereits in dieser Zeit hatte er begonnen, den Trompetenklang zu verfremden. Dieser Prozess hatte ganz Jahre gedauert, bis hin zu der Kreation eines gänzlichen neuen Sounds, den die meisten kaum noch als Trompete identifizieren würden. Und dies liegt nicht ausschließlich am Einsatz von Effektgeräten, sondern ebenso an den eigenen hierfür entwickelten Spieltechniken. Jon Hassells Trompete klingt mal wie ein ausgefallener Synthesizer und mal wie das Musikinstrument eines afrikanischen Stammesmusikers. Und so geschieht etwas wahrhaftig Magisches: Ein eher unattraktives Aerophon wird plötzlich zu einem universellen Instrument, befähigt die ganze Welt zu erfassen. Es verwandelt sich unter seinen Fingern und vor seinen Lippen zu einem Detektor, der die Rätsel an den Rändern unserer Zivilisation erfasst. Dies geschieht in einer Manier, die so zeitlos ist, dass es keine Rolle spielt, ob Fourth World, Vol. 1: Possible Musics in 1980, 1990, oder vor drei Wochen aufgenommen worden ist. Der kohärente Sound dieses Album weigert sich zu altern und scheint sich mit jedem weiteren Jahr zunehmend zu verjüngen. Diese Musik könnte genausogut aus der Zukunft stammen – einem Nullpunkt, der noch vor uns liegt und mit jedem Atemzug unweigerlich näher rückt.

Und da sind wir, tief in esoterischem Geplapper. Dieses Album bringt das eben in jedem hervor, der sich darauf einlässt. Reden wir also über Eno.

Brian Eno und Jon Hassell während der Aufnahmen zu Fourth World, Vol. 1: Possible Musics

Der englische Polyhistor Brian Eno hatte bereits Jon Hassells Debut-Album Vernal Equinox gekannt und dieses nach seiner Ankunft in New York rauf und runter gespielt, fasziniert von dem gänzlich neuartigen Sound. So dauerte es nicht lange, bis sich beide Künstler über den Weg liefen und… der Rest ist Geschichte. Nicht ganz – denn über die Sache mit der Namensgebung und der unmittelbaren Rolle von Brian Eno im Produktionsprozess wurde öfter spekuliert. Rückwirkend besteht kein Zweifel daran, dass dies ein reines Jon-Hassell-Album ist, das von Brian Eno jedoch produziert wurde.

In einem Interview erklärte dazu Jon Hassell: Diese Platte hätte man genauso gut ‘von Jon Hassel, produziert von Brian Eno‘ bezeichnen können. Das wäre die korrekte Beschriftung gewesen. Aber in jenen Tagen versuchte ich die Miete zu bezahlen und so hatte ich beschlossen, es als ‘Jon Hassell/Brian Eno‘ drucken zu lassen. Das wurde für mich später zu einem Problem, denn er hatte ein derart berühmtes Profil in der Pop-Welt entwickelt, dass es für viele Leute sozusagen eine ‘Eno-Platte’ wurde. Das war schmerzhaft.


Im März 1982 verfasste Jon Hassell einen Artikel in der amerikanischen Zeitschrift Heavy Metal, einem Ableger des französischen Fantasy- und Comic-Magazins Métal Hurlant, mit dem Titel ARTIFICIAL BOUNDARIES, EXPANDING HORIZONS, POSSIBLE MUSICS.

Darin schreibt er: Das Leben ist zunehmend von Abstraktionen erfüllt – Dinge, die du weder sehen noch anfassen kannst, denen wir jedoch kollektiv die Macht verliehen haben, unser Leben zu beherrschen. Linien, die nur auf dem Papier und in unserem Geist existieren; Trennstriche auf dem Ziffernblatt einer Uhr, die willkürlich den stetigen und ungebrochenen Fluss der Zeit in getrennte Einheiten teilen (wer hatte eigentlich die Sekunden erfunden?); die Technologie der Sprache, welche durch die unmittelbare Benennung einer Erfahrung, diesen Akt von der nahtlosen Landschaft des Innenlebens trennen (und uns erlaubt, das Wort ‘Liebe’ millionenfach zu benutzen, ohne es auch nur einmal erfahren zu haben), all das sind die Abstraktionen, die unser Leben bestimmen.

Ein visionäres Statement, das von der seichten, plastischen Welt der Social Media dreißig Jahre später in jeder Hinsicht bestätigt wird. Damals in 1982 dachte der Künstler dabei mehr an die reisserische Monotonie der grellen Werbung und die oberflächliche Welt der Chart-Popmusik. Der Mensch versklavt in einem Netz aus Slogans und Kaufbefehlen.

Hierzu bietet Fourth World, Vol. 1: Possible Musics die ultimative Alternative. Es ist das perfekte Album für den ideologischen Aussteiger, ein gewichtiger Schritt zu einem Zustand hin, den die Amerikaner als off the grid bezeichnen. Die kulturhistorische Autonomie beginnt hier.

Das Album suggeriert. Und doch sind die Suggestionen nur Trugbilder. Illusionen aus Jon Hassells musikalischem Baukasten. Die erste Suggestion kommt bereits mit dem Titel. Fourth World könnte einen ethnographischen Kontext haben, im selben Sinne, in dem der Ausdruck Dritte Welt gemünzt ist. Dass das Titelbild auf der Plattenhülle die Satellitenaufnahme einer Region südlich von Khartoum in Sudan zeigt, trägt zusätzlich zu dieser Illusion bei.

Die nächste Illusion kommt mit der Musik selbst. Heute würde man allzu schnell von World Music sprechen, doch damit wäre man bereits tief in der Hassellschen Falle, denn welchem Teil der Welt ist diese Weltmusik denn zugehörig?

Die Antwort ist einfach. Gar keiner. Diese Musik ist wie La trahison des images, das berühmt-berüchtigte Bild von René Magritte aus dem Jahr 1929. Ein fotorealistisches Gemälde, das eine Pfeife samt der augenzwinkernden Unterschrift Ceci n’est pas une pipe. (Dies ist keine Pfeife.) zeigt, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das grundsätzliche Problem hin, dass Kunst immer nur ein Abbild geistiger Zustände sein kann, die sich im Künstler, aber auch im Beobachter abspielen. Ein Kunstwerk ist hingegen gänzlich ungeeignet, um als ein Protokoll der Wirklichkeit zu dienen, die sich letztendlich auf einer ganz anderen Ebene abspielt. Überschneidungen nicht ausgeschlossen.

So lässt sich Jon Hassells Sound keiner konkreten ethnographischen Region zuordnen. Wenn du diese Musik als afrikanisch empfinden möchtest, dann steht es dir durchaus zu. Und es wird funktionieren. Doch falls du mehr den Wunsch verspürst, dieses Klangbild als asiatisch wahrzunehmen, lasse dich hierbei nicht aufhalten. Es wird mit Sicherheit gelingen. Doch nach einer Weile wird zunehmend deutlich, dass die Vierte Welt keine konkrete Region ist. Die Vierte Welt ist ein Reich ohne festen Boden unter den Füßen. Es ist die Erschaffung einer neuen entschleunigten Authentizität inmitten einer notorischen, repetitiven Plastikwelt.

So wird schnell deutlich, weshalb es falsch ist, dieses Album als einen frühen Beitrag zur World Music zu behandeln. Denn Jon Hassells Fourth World ist eine musikalische Dimension, die jenseits konkreter ethnographische Gefilde existiert. Fourth World ist genauso wenig World Music, wie das Reisen mit dem Zeigefinger über eine Landkarte eine Landvermessung ist. Fourth World ist die ethnographische Reise in eine kulturhistorische Sphäre, die nur in unseren Köpfen und Herzen existiert. Dies ist die Welt der Schamanen, doch es ist auch die Welt deiner eigenen Visionen.

Eine solche akustische Reiseart wurde von nur wenigen Künstlern aufgegriffen. Brian Eno tat es ein wenig mit Ambient 4: On Land aus dem Jahr 1980 (auf dem Jon Hassell mitspielt), Peter Gabriel tat es sehr viel mit Passion aus dem Jahr 1989 (auf dem ebenfalls Jon Hassell mitspielt), László Hortobágyi mit Traditional Music of Amygdala in 1990, und dann natürlich O Yuki Conjugate mit den drei Alben Peyote, Undercurrents und Equator. Gerade die zuletzt genannten Alben sind tief in der Vierten Welt angesiedelt.

Fourth World, Vol. 1: Possible Musics ist musikalisch leicht zugänglich, doch in seiner formalen Einfachheit bleibt es ein schwer erfassbares Album. Denn ungeachtet seiner überschaubaren Form hinterlässt es stets auch die bereits gestellte Frage offen: Was höre ich? Fourth World, Vol. 1: Possible Musics ist ein zentraler Eckpfeiler der Ambient-Bewegung und ungeachtet seines verhältnismäßig geringen Bekanntheitgrads vermutlich eines der einflussreichsten Alben der experimentellen und sphärischen Musik. Dies ist der ultimative Sound für die Raumstation und der großartige Wurf eines der eindrucksvollsten Illusionisten der modernen Musikwelt.

Fourth World, Vol. 1: Possible Musics

Das Album ist heute leicht erhältlich, ob als CD oder via Download. Für die Fortgeschrittenen ist allerdings die exzellente Vinyl-Neuauflage des deutschen Labels GLITTERBEAT zu empfehlen. Hierbei bekommt man für denselben Preis nicht nur die Schallplatte, sondern auch die passende CD dazu.

Images:
Jon Hassell performing at Stockholm JazzFest09, photographed by Henryk Kotowski (CC BY-SA 3.0)
Cover images: E.G., Polydor, Glitterbeat


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