‘Hier bin ich’ – Optisch ein Backstein, inhaltlich facettenreich, selbstironisch und ein Meisterwerk der Abschweifung
‘Hier bin ich’, so heißt der 2016 erschienene Roman von Jonathan Safran Foer. Rein optisch kommt er mit seinen knapp 700 Seiten als Backstein daher. Aber auch inhaltlich hat er es durchaus in sich – doch die einzige Person, die wirklich selbstbewusst ‘Hier bin ich’ sagen kann, ist der biblische Abraham. Alle anderen Figuren dieses Romans stehen an einem biographischen Scheideweg, müssen sich neu erfinden, ihr Leben neu justieren, Altes neu denken.
Doch nun mal der Reihe nach. Die Hauptprotagonisten sind Julia und Jacob Bloch, die mit ihren drei Söhnen in Washington D.C. wohnen. Jacob ist Autor, früher einmal von eher anspruchsvollen Romanen, heute Plotter für eine beliebte Fernsehserie; Julia ist Innenarchitektin. Also ein gut situiertes Paar, das einen an sich unspektakulären aber sicheren Alltag für sich und seine Kinder geschaffen hat. Dazu gehört auch, dass die Erwachsenen gelernt haben, ihre kleineren Probleme durchaus wortgewandt anzusprechen, ihre größeren Probleme aber für sich zu behalten und mit sich selbst irgendwie mehr schlecht als recht auszumachen und unter den Teppich zu kehren. Das funktioniert aber nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem vier Ereignisse kollidieren: Ihr Sohn Sam, der kurz vor seiner Bar Mizwa steht, rebelliert innerlich, äußerlich und vor allem auch im Internet gegen das Judentum, kämpft zudem mit seiner Rolle als heranwachsender Mann, sein jüngerer Bruder sinniert über den Tod, ihr Großvater weigert sich ins Altersheim zu ziehen – und Julia findet ein Zweithandy, auf dem ihr Mann sehr eindeutig obszöne Nachrichten an eine fremde Frau schickt.
Dieser Fund, zusammen mit den anderen Ereignissen, bringen die Ehe zum Scheitern – und bringen die Familienmitglieder tatsächlich auch örtlich auf Distanz. Julia geht mit Sam auf eine Jugendfreizeit, Jacob muss sich mit seinem senilen Vater auseinandersetzen und die anreisende Verwandtschaft aus Israel betreuen. Als dann auch noch ein katastrophales Erdbeben weite Teile Israels zerstört, gerät auch die politische Situation im Nahen Osten außer Kontrolle – und vor allem für Jacob stellt sich die Frage nach seiner jüdischen Identität und die immer drängende Diskussion um Diaspora und Zionismus. Dass er sich nun auf der Weltbühne als Mann und Held fühlen kann, sich gar als Retter des jüdischen Volkes phantasiert, ist mit einer zarten Prise Selbstironie beschrieben, die man aus den bisherigen durchaus lesbaren aber irgendwie auch brav und bieder geschriebenen Werken Safran Foers nicht unbedingt kennt.
‘Hier bin ich’ will vieles sein: Ein Familienroman, eine vielleicht auch autobiographisch bedingte Aufarbeitung seiner Scheidung. Es ist aber auch ein politischer Roman, ein Adoleszenzroman und ein Roman, der sich auf vielen Ebenen mit den Fragen jüdischer Identität auseinandersetzt. Es gibt zahlreiche Verweise auf das Alte Testament, speziell auf die fünf Bücher Mose. Zentral ist hier der Titel des Romans, der auf die eigentlich unglaubliche Geschichte Abrahams rekurriert, der Jahwes Aufgabe, seinen Sohn Isaac zu opfern, mit einem dreimal ausgesprochenen ‘hineni’, hier bin ich, beantwortete. Dieses ‘hineni’ gilt als Verpflichtung Jahwe gegenüber und beschreibt ein Gotteskonzept, das zwar auch eine persönliche Freiheit kennt, dieser aber das ungleich stärkere ‘hier bin ich’ (zu Deinen Diensten) gegenüberstellt.
Ganz in diesem Sinne ist dieser Roman im Kern eine facettenreiche Diskussion über die zwar alte, hier aber auch immer mal wieder neu gedachte und durchaus fesselnd erzählte Dichotomie persönlicher Entfaltung zwischen religiöser, gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Verpflichtung auf der einen und individueller Freiheit auf der anderen Seite. Dabei gelingt es Jonathan Safran Foer, diese Fragen elegant in die Handlung einzubauen, so dass man diesen Roman auch ohne den religiösen und philosophischen Überbau mit Genuss lesen kann. Die Dialoge, die einen sehr großen Raum einnehmen, sind herrlich süffig, intelligent tiefsinnig und humorvoll gestaltet und verraten, dass Foer, wie auch sein Protagonist, an einer Fernsehserie arbeitet. Der Leser sollte aber wissen – und er sei hiermit auch vorgewarnt: Dieser Roman ist, bedingt durch die Präsenz der Dialoge, ein geschwätziger Roman. Aber aufgrund des Bildungsniveaus seiner Protagonisten kann man sich sehr gut unterhalten fühlen, wenn man nicht erwartet, dass jeder Satz gleich zu einer konsequenten Handlung führt.
All diese Elemente machen die Lektüre zu einer äußerst kurzweiligen. Es fehlen, zum Glück, die Larmoyanz und die Wut, die ansonsten vielen Ehe- beziehungsweise Scheidungsromanen eigen sind. Dafür sorgen auch die Krisen, die die Kinder des Ehepaares durchleben. Und es hat durchaus auch etwas Abrahamitisches, wenn Jacob, seinen Sohn Sam in dem Spiel ‘Other Life’ versehentlich tötet – und in einem absurd wirkenden Telefonat mit der Servicestelle dieses Online-Spiels über die Wiederbelebung diskutiert. Die Verbindung des Privaten mit dem Religiösen und Politischen gelingt Foer nachvollziehbar und elegant, so dass ihm mit ‘Hier bin ich’ ein großer Wurf gelungen ist, dem der Rezensent möglichst viele Leser und Leserinnen wünscht.
Cover © Kiepenheuer & Witsch
- Autor: Jonathan Safran Foer
- Titel: Hier bin ich
- Originaltitel: Here I Am
- Übersetzer: Henning Ahrens
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- Erschienen: 2016
- Einband: Gebunden mit Schutzumschlag
- Seiten: 688
- ISBN: 978-3-462-04877-3
- Sonstige Informationen:
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