Man könnte gerade als von institutioneller Bildung und verhärteten gesellschaftlichen Normen geprägter Durchschnittsmensch vorschnell urteilen, es handele sich bei “Werde, was du warst” um ein antiautoritätsesoterisch verklärtes Werk, das vor allem die Anarchie des kindlichen Seins und Lebens stärken soll, doch das wäre ein ungünstiger, gar einfältiger Denkansatz und dürfte wohl auch kaum die Intention des Autors sein.
Denn im Grunde ist vorliegendes Werk ein Plädoyer für die Freiheit der kindlichen Natur und des kindlichen Wesens zugunsten eines späteren Funktionierens als Mensch.
Jeder Eingriff in den natürlichen Lernprozess – auch wenn er noch so gut gemeint ist – verunsichert das Kind. (S. 33)
In diesem gerade mal 32-seitigen gebundenen Manifest in Form eines Pappbands, welches zudem um einige Fotos sowie um ein Vorwort von Katharina Saalfrank (die offenbar vor einiger Zeit selbst begriffen hat, dass ihre damalige TV-Show “Die Super-Nanny” ihrer Seriosität nicht förderlich war) erweitert wurde, macht sich der Musiker, Gitarrenbauer, Autor und Freibildungsexperte André Stern, welcher nie eine Schule besuchte, für das spielerische Entdecken und das Tunlassen des Kindes stark, mit möglichst wenig gesellschaftlich verankerten Bremsen, um so die Entwicklung neuronaler Verknüpfungen zu fördern und dem Kind die Möglichkeit zu geben, möglichst autark das Leben zu lernen. Zu erlernen. Kennenzulernen. Trial and error.
Die Begeisterung wirkt wie eine Art Düngemittel. Da, wo wir uns begeistern, entwickelt sich das Gehirn rasch und spontan. Der Neurobiologe (Gerald Hüther – Anm. d. Red.) beweist, was wir alle schon durch Erfahrung wissen: Die Begeisterung ist der Generalschlüssel. Sie verleiht uns Flügel, lässt uns Hindernisse überwinden. (S. 13 f.)
Er sucht und findet – nicht zuletzt mithilfe seiner bestätigenden Erfahrung als wohlgeratener Sohn, aber auch inspiriert von diversen anderen Quellen – Wege und Möglichkeiten hinaus aus der Aberziehung jedweder Kreativität hin zu frühzeitiger Selbstständigkeit und schlussendlich Lebensfähigkeit, beispielsweise durch das Beibehalten familiärer Rituale und das Beibehalten höchstmöglicher konstruktiver Selbstbestimmung, um Frust und Verwirrung zu vermeiden.
Wir befürchten, dass das Kind sich langweilen wird, wenn es das immer gleiche Spiel spielt, also schlagen wir ihm Abwechlsung vor. Langeweile ist aber eine Folge von Unbeständigkeit; Unbeständigkeit wiederum folgt aus der unnatürlichen Unterbrechung der Kontinuität. Der Vorschlag, etwas zu ändern, verwirrt das Kind also und öffnet der Langeweile erst recht Tür und Tor (S. 26)
Dass hierbei Vertrauen, Liebe und Respekt die Grundpfeiler der kindlichen Entwicklung sind, versucht er hervorzuheben und begründet deren Unverzichtbarkeit plausibel, zumal diese Pfeiler auch den widrigsten Umständen standhalten werden.
Wenngleich dieses Manifest hier und dort ein paar inhaltliche Redundanzen aufweist, ist es ein kleines, wertvolles und auch für Nicht-Pädagogen wie den Rezensenten lesbares, vor allem leidenschaftliches Werk mit zahlreichen wichtigen Denkanstößen und dient obendrein – ähnlich wie die grandiose Dokumentation “alphabet – Angst oder Liebe” (Rezension) – als gelungener Impulsgeber für das Hinterfragen des modernen Erziehungs- und Bildungssystems, welches auf die technische Funktionalität des Menschen programmiert ist und das den Stellenwert des Menschen als Wesen nahezu komplett missachtet.
Der Mensch soll wieder werden, was er war: Mensch.
- Autor: André Stern
- Titel: Werde, was du warst. Manifest für eine Ökologie der Kindheit
- Verlag: Ecowin/Benevento
- Erschienen: 21.09.2016
- Einband: Pappband
- Seiten: 32
- ISBN:
978-3-7110-01061 (Print)
978-3-7110-5175-2 (e-Book) - Sonstige Informationen:
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Wertung: 13/15 strahlende Kindergesichter
Über André Stern (Quelle: André Sterns Homepage)
André Stern, 1971 in Paris geboren und aufgewachsen, Sohn des Forschers und Malort-Gründers Arno Stern, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Er ist Musiker, Komponist, Gitarrenbaumeister, Journalist und Autor, unter anderem des Bestsellers “… und ich war nie in der Schule” sowie, gemeinsam mit Arno Stern, des Buches “Mein Vater, mein Freund”.
Als Freibildungsexperte ist er ein gefragter Referent, der sich international (Europa, USA, Kanada, Afrika, Indien) an der Seite von zukunftsorientierten Akteuren der Bildungslandschaft stark engagiert. Daneben arbeitet er eng mit seinem Vater zusammen und ist mit Prof. Dr. Gerald Hüther Gründer und Leiter der Initiative “Männer für morgen”.
Ferner leitet André Stern das “Institut Arno Stern, Labor zur Beobachtung und Erhaltung der spontanen Veranlagungen des Kindes” und initiierte die Bewegung “Ökologie der Kindheit”. Er ist einer der Protagonisten in “Alphabet”, dem Film von Erwin Wagenhofer, und Co-Autor des gleichnamigen Buches.