Ein Bus fährt durch gelbe, ausgedörrte Landschaften. Sepiabilder von staubigen Kindern springen dazwischen. Dann liegt ein Junge am Boden; die Augen starr, Blut läuft aus seinem Mund. Als der Bus am Abend sein Ziel erreicht, steigt eine Frau aus. In Couture steht sie allein auf der staubigen Straße und sagt: »Ich bin zurück, ihr Mistkerle.«
Die Frau ist Tilly Dunnage, die einst aus ihrem Heimatort vertrieben wurde; weil ihre Mutter ein uneheliches Kind hatte, weil sie selbst am Tod eines Jungen schuld sein sollte, weil die Menschen in Kleinstädten nun einmal sind, wie sie sind. Tilly bringt aber nicht nur Erinnerungen nach Dungatar, sondern auch ihre Nähmaschine und das fabelhafte Talent, die Menschen in ihren Kleidern so aussehen zu lassen, wie sie selbst gern gesehen werden wollen. Sie näht den örtlichen Frauen betörende Kleider, päppelt ihre geistig verwirrte und körperlich hinfällige Mutter wieder auf und findet die Liebe ihres Lebens. Und dann wird es erst richtig gut.
Drei Dinge machen „The Dressmaker“ zu gutem und absolut sehenswertem Programmkino:
Die Besetzung ist bis in die Nebenrollen (einschließlich des hier nicht näher beschriebenen aber hinreißend komischen Kleinstadtpersonals) stimmig. Kate Winslet spielt Tilly Dunnage als Mischung aus Femme fatale und Intrigenopfer mit der ihr eigenen Souveränität, wodurch sie einer durchaus widersprüchlichen (und zahlreichen Genrewechseln unterworfenen) Figur zu Authentizität und Glaubwürdigkeit verhilft. Judy Davis, als Molly Dunnage, kann getrost als zweite weibliche Hauptrolle des Films genannt werden. Mit feinem Gespür findet sie die Lücken im dementen und misstrauischen Wesen ihrer Figur. Mühelos und in vielen kleinen Schritten wechselt sie zwischen einer spröden Mutter, die sich nicht an ihre Tochter erinnern kann (oder will) und der emanzipierten Kleinstadtbürgerin. Es ist ein Vergnügen, ihr dabei zuzusehen. Liam Hemsworth spielt Teddy McSwiney, auf seine Art ein Außenseiter wie Tilly, der sich seinen Platz im Ort durch gute Ergebnisse beim Football „verdient“ hat. Obwohl Hemsworth als Footballspieler nicht für übermäßigen Tiefgang prädestiniert ist, spielt er seine Rolle immerhin charmant und durchaus überzeugend. Spannender ist allerdings die Nebenrolle seines geistig und körperlich behinderten Bruders Barney. Gyton Grantley schafft es auf berührende Art und Weise, den Zuschauer*innen eine Figur verständlich und nahbar zu machen, die im Kosmos der Kleinstadt immer nur der Dorftrottel wäre. Ebenso liebevoll ist auch Hugo Weavings Darstellung des Crossdressers und Ortspolizisten Horatio Farrat, der sich im Laufe des Films von seiner Angst emanzipiert und schließlich seine Liebe zu sich selbst in Frauenkleidern öffentlich macht. Weaving spielt seinen Farrat viel übertriebener als z.B. Eddie Redmayne seine Lily Elbe, aber trotzdem mit großem Respekt und Zuneigung für seine Figur.
Neben den Darsteller*innen ist es vor allem der fast schon absurde Genremix des Films, der „The Dressmaker“ sehenswert macht. Die Mischung aus Rache, Liebe, Familie, Kleinstadtmief, Western und Mode, aus berührendem Drama und zeitweise absurder Komik wird nicht allen sofort einleuchten. Wer sich aber auf den Film einlässt, wird schnell feststellen, dass eine zuckersüße Außenseiterin-gewinnt-die-Herzen-ihrer-Gegner*innen-und-die-Liebe-Geschichte eben nur das halbe Vergnügen ist. Immer wieder bricht der Film die zuvor ausgeloteten Genregrenzen mit so brachialer Konsequenz, dass man entweder lauthals loslacht oder vor Verblüffung völlig verstummt. „The Dressmaker“ steckt in einer Vielzahl von Hüllen, die er nach und nach ablegt. Jede Mode, jedes Genre wird probiert, gebrochen und letztlich verworfen, so dass eine tiefere Schicht sichtbar wird.
Genauso funktioniert auch die Musik von David Hirschfelder. Er verleiht jeder Szene und jedem Stil seinen ganz eigenen Klang. Von Trommeln und Gitarren, die anfangs an Ennio Morricone erinnern, über sanfte Spieluhrklänge (auch gern gemischt mit Glockenspielen) und große orchestrale Klangteppiche (die gelegentlich etwas zu stark an John Williams denken lassen) arbeitet er sich Lage für Lage durch die Bilder, Figuren und die Geschichte hindurch. Dabei überzeugt er (wie auch schon in früheren Werken) weniger mit eingängigen Motiven – obwohl diese durchaus vorhanden sind – als vielmehr mit dem Einfangen von klanglichen Stimmungen.
„The Dressmaker“ ist kein Jedermenschsfilm, aber er ist eine gelungene Mischung aus mutiger Idee, hervorragender Besetzung und stimmigem Sound. Die sehr eigene Optik (stark differenzierte Arbeit mit der Farbsättigung einzelner Bilder oder gar Bildteile) und die absolut großartigen Kostüme machen das Gesamtwerk zu einer runden Sache.
Cover © Ascot Elite
- Titel: The Dressmaker – Die Schneiderin
- Originaltitel: The Dressmaker
- Produktionsland und -jahr: Australien, 2015
- Genre:
Kleinstadtkomödie, Rachewestern, Liebesdrama - Erschienen: 29.04.2016
- Label: Ascot Elite
- Spielzeit:
119 Minuten - Darsteller*innen:
Kate Winslet
Liam Hemsworth
Judy Davis
Hugo Weaving - Regie: Jocelyn Moorhouse
- Drehbuch:
Jocelyn Moorhouse
P. J. Hogan - Musik: David Hirschfelder
- Kostüm: Marion Boyce
- Extras:
Originaltrailer (+Trailershow)
Featurettes (Hauptdarsteller*innen und Kostüme)
Interviews mit Cast und Crew
B-Roll - Technische Details (Blu-ray)
Video: 2.36:1 / 16:9
Sprachen/Ton: D, GB
Untertitel: D
- FSK: 12
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 13/15 dpt