Städtische U-Bahnsysteme bilden zwar nicht die Grundlage für ein ganz eigenes Genre, aber zahlreiche Filme nutzen die verzweigten Handlungsstätten gerne, denn die Topographie eignet sich wie kaum eine andere als Sinnbild für Geburtsvorgang und Tod. Wir kommen aus einem dunklen Schacht und enden in einem.
“Der Tunnel der lebenden Leichen”, “End Of The Line”, “Mimic”, “The Midnight Meat Train” (ungeschnitten eine der stimmigsten Clive Barker-Verfilmungen) und vor allem “Creep” nutzen die unterirdischen Schienenstränge und U-Bahn-Waggons für blutige Horror-Scharmützel. Luc Bessons zweiter Film “Subway” ist ein artifizieller Mittachtziger Neo-Noir-Thriller, der fast ausschließlich abseits von natürlichem Licht spielt. In Action-Filmen wie dem dritten Teil von “Die Hard”, “Speed” oder “The Taking of Pelham 123” (Original wie Remake) bekommt die U-Bahn partielle wie essentielle Bedeutung.
Am Konsequentesten nutzt aber “Kontroll” das Medium Metro. Nimród Antals Werk verlässt den unterirdischen Bereich nie. Weiter als bis zur Rolltreppe werden die Figuren nicht verfolgt. Wobei das obige Konstrukt von Leben und Tod umgekehrt wird. Zu Beginn führt die Rolltreppe nach unten in den Tod, mit der Abschlusseinstellung verheißt sie die Möglichkeit zu Leben. Draußen.
Der Film folgt einer Gruppe von Fahrkartenkontrolleuren um den charismatischen Bulcsú, der im Untergrund lebt, schläft und arbeitet. Gründe dafür werden nicht genannt, lediglich in einer kurzen Szene wird auf Bulcsús Vergangenheit eingegangen.
Stattdessen werden die Kontrolleure bei der Arbeit beobachtet. Ordnungskräfte, denen mit wenig Respekt begegnet wird, die sich mit endlosen Wort- und mitunter handgreiflichen Gefechten konfrontiert sehen. Bulcsús Truppe besteht aus physisch und psychisch aufgezehrten Charakteren. Sie sind sympathische Loser, während der von der Geschäftsleitung gelobte Gonzó ein großmäuliger Feigling ist, nur stark, wenn er seine Garde hinter sich weiß.
Bei aller Skurrilität und dem Erleben und Erleiden absurder Situationen, werden die Protagonisten nicht diffamiert sondern nachvollziehbar gezeichnet, wobei sich Sym- und Antipathie die Waage halten.
“Kontroll” ist ein Kaleidoskop mit einer Aufsplitterung in teilweise surreale Partikel und Spiegelungen. Neben dem Kontrolleursalltag, der in der Jagd auf Bootsie, dem berühmtesten und berüchtigtsten Schwarzfahrer der Stadt, gipfelt, beschäftigt die Belegschaft eine Reihe von Todesfällen. Menschen stürzen auf Gleise und werden von herannahenden Zügen erfasst. Wie sich bald herausstellt, keine Unfälle oder Selbstmorde sondern die Taten eines schattenhaften Serienkillers, der es geschickt versteht, den unterirdischen Überwachungskameras auszuweichen. Unweigerlich wird es auf eine Konfrontation mit Bulcsú hinauslaufen.
Oder ist er etwa selbst der Schatten? So oder so ist “Schienenlaufen” angesagt, jenes legendäre, kräftezehrende Wettrennen zwischen zwei Stationen, nachdem der letzte reguläre Personenzug gestartet ist und bevor eine passagierlose Bahn ohne Zwischenhalt die Strecke zur Überprüfung abfährt.
Für ein bisschen Nestwärme in dieser abgeschotteten Welt sorgen der gutherzige Lokführer “Onkel” Béla und die im Bärenkostüm flanierende Szofi, Bulcsús mögliche Chance, sein unterirdisches Reich endlich wieder verlassen zu können.
Nimród Antal wuchs in Los Angeles als Sohn ungarischer Einwanderer auf. Für sein Studium ging er zurück nach Budapest, um an der dortigen Schauspiel- und Filmhochschule zu studieren. “Kontroll” war 2003 sein erster Langfilm. Danach drehte er in den USA den soliden Psycho-Thriller “Motel”, den klaustrophobischen Noir “Armored” und war für “Predators” verantwortlich, eher ein gelungenes Update als direktes Remake des Arnold-Schwarzenegger-Films von John McTiernan. Danach beschäftigte er sich mit Metallica (“Through the Never” – Das Leben in den USA kostet…) und der TV-Serie “Wayward Pines”. Den ganz spezifischen Charme “Kontrolls”, der das Schöne noch im Schmutzigen sucht und manchmal findet, konnte er bislang nicht mehr erzeugen.
“Kontroll” erzählt keine stringente Geschichte, es gibt Eckpunkte wie den schemenhaften Killer, den legendären Schwarzfahrer Bootsie und das bezaubernde Bärenmädchen Szofi, die dem Film eine Klammer geben, innerhalb der der kafkaeske, mal bitterkomische, mal schmerzhafte Werktag der Fahrkartenkontrolleure abläuft. Antal hat das mit viel Zuneigung zu seinen abgehalfterten Figuren inszeniert, er wahrt eine angenehme Distanz, die absurde Situationen nahezu alltäglich erscheinen lässt (wie die narkoleptischen Anfälle von Bulcsús Kollegen Muki in Momenten der Aufgeregtheit) und sich den Luxus erlauben kann, nur das Ergebnis von Actioneinlagen und Gewalt zu zeigen. Die Aktionen selbst werden weitgehend ausgeblendet. So gibt es zwar (kurz) Blut und Innereien zu sehen, die das Makabre stützen aber “Kontroll” nicht zum reinen Horrorfilm werden lassen.
Emotionales Zentrum des Films ist Bulcsús Selbstfindung, in Verbindung mit der sachten Annäherung an Szofi, aber auch in der Interaktion mit dem mordenden Schatten. Hier spielt “Kontroll” gekonnt mit dem “Ein Mann in der Menge”-Doppelgängermotiv. Wie überhaupt, neben David Lynchs und Franz Kafkas Geist, auch der Edgar Allan Poes durch den belebten Untergrund fegt.
“Kontroll” mag krude erscheinen, doch ist er eine stilvolle und atmosphärische Liebeserklärung an eine Welt unter Tage und ihre Bewohner, die letztlich nur die düstere Spiegelung der sonnendurchfluteten Welt oben drüber ist. Nimród Antal spielt mit den Mechanismen des Blockbuster-Kinos und verweigert sich, wenn es ihm angebracht scheint. Das Ergebnis ist eigensinnig, unterhaltsam und hat zudem einen exzellenten, höchst stimmigen Soundtrack zwischen Indie-Rock, Noir-Jazz und progressive Technoklängen vorzuweisen.
Das Bild der neuen Blu Ray-Ausgabe ist kräftig, klar, ohne dem Dunkel und Schmutz eine glamouröse Aura zu verleihen. Die “Deleted Scenes” in der Bonussektion zeigen, dass der Regisseur genau weiß, was sein Film an Material braucht, um größtmögliche Wirkung zu entfalten. Bleibt zu hoffen, das Antal demnächst wieder ein adäquates amerikanisches Äquivalent gelingt (wobei seine drei späteren Spielfilme durchaus ansehnlich sind. Beim Metallica-Vehikel muss man schon arger Fan sein. Der Band oder des Regisseurs).
Vor dem Start erzählt Aba Botond, Direktor der Budapester Verkehrsspiele, sichtlich stolz wie er dem Team die nächtliche Drehgenehmigung im verzweigten Budapester Metro-Bereich erteilte. Trotz des Widerstands einiger Kollegen, die aufgrund der Serienkiller-Thematik negative Schlagzeilen befürchteten. Das Ergebnis gibt Botond berechtigten Anlass zur Freude.
Einer von vielen schönen, wichtigen Dialogen:
“Papa, hast du das Gefühl, ich sei verrückt?”
“Ja… – Gott sei Dank!”
Cover & Szenenfotos © Tiberius Film/Sunfilm
- Titel: Kontroll – Jeder muss bezahlen
- Originaltitel: Kontroll
- Produktionsland und -jahr: Ungarn, 2003
- Genre:
Märchen, Thriller, Horror, Krimi, Komödie, Drama
- Erschienen: 11/2015
- Label: Tiberius Film/Sunfilm
- Spielzeit:
105 Minuten auf 1 Blu-ray - Darsteller:
Sándor Csányi
Zoltán Mucsi
Csaba Pindroch
Sándor Badár
Zsolt Nagy
Bence Mátyási
Gyözö Szabó
Eszter Balla - Regie:
Nimród Antal - Drehbuch:
Nimród Antal
Jim Adler
- Kamera:
Gyula Pados
- Musik:
Neo
- Extras:
Trailer, Making of,
Storyboards, Deleted Scenes
- Technische Details (Blu-ray)
Video: 1920x1080i (1.85:1)
Sprachen/Ton:
Deutsch DTS-HD MA 5.1
Ungarisch DTS-HD MA 5.1
Untertitel:
Deutsch
- FSK: 16
- Sonstige Informationen:
Produktseite DVD
Wertung: 12/15 U-Bahn-Tickets