Jérémie Guez – Paris, die Nacht (Buch)

J. Guez - Paris, die Nacht - Cover © polar VerlagDer Polar Verlag entpuppt sich immer mehr als Talentschmiede. Nach “Die Stadt der Ertrinkenden”, dem Debüt des zwanzigjährigen Ben Atkins, erscheint mit “Paris, die Nacht”  das Erstlingswerk des französischen Autors Jérémie Guez, der bei Vollendung des Buchs gerade zwei Jahre mehr als Atkins zählte. Aber schon einen Plan hat, der “Paris la nuit” als Teil eines Triptychons sieht. Die folgenden – inhaltlich unabhängigen – Romane “Balancé dans le cordes” und die Detektiv-Story “Du vide plein les yeux” sind beide im Original bereits erschienen.  

Der Mann mit dem Plan hält sich also daran und ist auch sonst sehr rührig. Laut Nachwort besonders gern im Bekunden, dass er keine französischen Krimis lese, da ihm die offensichtlichen politischen Implikationen nicht zusagen. Interessante Aussage für einen Schriftsteller, dessen Hauptfigur ein junger, jüdischer Nordafrikaner ist, der arbeitslos durch die Straßen von Paris streicht und vom Kleinkriminellen zum Schwerverbrecher changiert. Mag Guez die Romane nicht lesen, die Filme kennt er mit Sicherheit. Es sind verdammt gute.

Schon der Titel gemahnt an filmische Klassiker (kleiner Exkurs mit verwandtschaftlichem Verweis: Es ist höchste Zeit, dass Claude Berris hervorragender “Tchao Pantin” aka “Am Rande der Nacht” hierzulande auf DVD/Blu-Ray erscheint). Aber nicht nur, wenn es Nacht wird in Paris  schlagen Abe und Goran die Zeit in diversen Bars tot, legen sich mit Polizisten an und wanken am Morgen aus der Haft nach Hause. Abe, der Ich-Erzähler, wohnt bei seinem Vater, von Guez knapp als zerstörte Seele skizziert, der nahezu kommunikationslos neben seinem Sohn dahin vegetiert. Das kann Guez ausgesprochen gut, mit wenigen Sätzen Stimmungen, Menschen und situative Entwicklungen erfassen. Abraham vollführt noch einen Spagat, ist dank Freundin Julia in Kontakt mit dem Studentenmilieu, während er mit seinen Freunden perspektivlos abhängt, durch Spelunken zieht und von einem Tag in den anderen lebt.

Eigentlich ein typischer Flaneur wie sie das literarische Paris seit Jahrhunderten beherbergt. Was politische Konnotationen angeht, hält Guez sich tatsächlich bedeckt. Abe und seine Kompagnons sind keine gesellschaftlichen Außenseiter aufgrund ihrer Herkunft,   Hautfarbe oder sozialer Disposition. Sie haben anscheinend alle das Collége besucht und sich dennoch für das Straßenleben entschieden. Laufen herum, sitzen, reden, trinken, nehmen Drogen und lassen die Welt teilnehmen an ihren Taten und Beobachtungen. Wie es Flaneure eben tun. Allerdings fehlt ihnen das Geld zum wahren, sinnerfüllten Müßiggang.

Das soll sich ändern, als Abe und sein Kumpel Nathan zufällig eine illegale Pokerrunde im Hinterzimmer eines Lokals ins Auge fassen. Schnell ist der Plan geschmiedet, die Spieler auszunehmen. Der Überfall geht relativ reibungslos vonstatten, aber wie kaum anders zu erwarten, haben sich die jungen Amateure mit Profis angelegt. Für sie wird es finster in Paris, nicht nur der Nacht wegen…

“Paris, die Nacht” macht seinem Titel alle Ehre. Die Geschichte, die Jérémie Guez erzählt, ist natürlich nicht neu, aber wie er sie erzählt, ist erfrischend und außerordentlich spannend.  Abraham ist kein abgebrühter Gangster, der seine Coups cool und lässig über die Bühne bringt. Guez schildert ihn vielmehr als ängstlichen Teenager, der erst anderen den Vortritt lässt, bevor er sich selbst herauswagt. Dann aber mit brutaler Konsequenz zuschlägt. Doch Gewalt ist im nächtlichen Paris kein Akt der Befreiung, sondern etwas Niederträchtiges, Gemeines und Hinterhältiges. Der Roman erzählt vom tiefen Fall eines Kleingangsters, der im Sturz alles mit sich reißt, was in seiner Nähe ist. Guez gelingen dabei eindrucksvolle Schlaglichter wie die kurze Biographie des Studenten Pierre, den Abe erst an harte Drogen heranführt, der zum süchtigen Wrack mutiert und den Abe, trotz vorgeblichen schlechten Gewissens, bedenkenlos für seine Ziele opfern würde.

Abraham ist kein sympathischer Protagonist, aber eine faszinierende Hauptfigur. Eine moralische Blaupause, die zwar Werte wie Freundschaft beschwört und dafür auch blindlings in die Schlacht ziehen würde, doch nicht bereit ist, ideell für seine Freunde, die Liebe oder sonst was einzustehen. Er versagt gegenüber seinen Nächsten ein ums andere Mal, verliert sich, indem er zum Mörder wird und steht am Ende mit dem Erkenntnisgewinn da, sich seiner eigenen Jämmerlichkeit bewusst werden zu müssen.

Der im Präsens verfasste Roman bindet den Leser gekonnt an sich, durch seine knappe, fiebrige, genau kalkulierte Sprache, die einen unbedarften Erzähler vorgaukelt, der seine abgründige Welt so erstaunt wie neugierig durchmisst, dabei aber eine Seele offenbart, die finsterer ist als Paris in tiefster Nacht. Ein dreckiger, kurzgefasster Noir mit viel Potenzial, der Lust macht auf die weiteren Werke des jungen Autors. An seiner Selbstdarstellung kann er ja ein bisschen feilen. Und dabei zugeben, dass er den ein oder anderen (néo)-polar doch gelesen hat.

PS.: Wo wir gerade dabei sind: Nicht nur “Am Rande der Nacht” ist es wert wiederentdeckt zu werden, auch Jaques Brals “Polar” (“Polar – Ein Detektiv sieht schwarz”) und Édouard Niermans “Poussière d’ange” (“Engel aus Staub”) warten sehnsüchtig auf die notwendige und ansprechende Veröffentlichung für’s deutschsprachige Heimkino.
Cover © polar Verlag

Wertung: 12/15 dpt

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