Abhusten. Und Zähneputzen. Das ist eine der am häufigsten wiederholten Handlungen in “Ein Junge namens Titli”. Der in den Slums von Delhi spielende indische Film hat nichts mit dem Bollywood-Stereotyp von überdreht farbenfrohen Tanzszenen, überschminkten Schauspieler*innen oder – seit “Dhoom!” ebenfalls Bestandteil des Bollywood-Kinos – Motorradaction zu tun. Familie, Liebe und Freunde sind hier nichts als Bestandteile eines manipulativen Spiels um gesellschaftlichen Aufstieg. Stattdessen herrschen Dreck, Staub und Smog, den sich die drei Brüder und Kriminelle Vikram, Pradeep und Titli jeden Morgen aus der Lunge würgen.
Titli, der jüngste und schmächtigste der drei Geschwister, hat genug von den gemeinsamen brutalen Raubüberfällen und dem Klima der Angst und Armut, das im unfertigen Haus der Familie herrscht. Während der älteste Bruder Vikram seine Frau und Geschwister prügelnd tyrannisiert, übernimmt der mittlere Bruder Pradeep eine vermittelnde Rolle, resigniert jedoch angesichts seiner unterdrückten und ausgenutzten Homosexualität. Titli erhält von einem Bekannten ein überteuertes Angebot, in einer weit entfernten Mall ein Parkhaus zu betreiben, mit dem er sich den Lebensunterhalt legal sichern könnte. Er stiehlt seinen Brüdern das notwendige Geld und versucht zu flüchten, wird jedoch von der Polizei aufgehalten und ausgeraubt. Zurück in der Familie wird er mit Neelu zwangsverheiratet, um durch die Mitgift das Geld wieder in die Familienkasse zu bringen. Doch Neelu ist mit dem reichen Bauunternehmer Prince liiert. Durch gegenseitige Erpressung scheint sich das unfreiwillige Ehepaar gegenseitig die Flucht aus den Slums ermöglichen zu können.
“Ein Junge namens Titli” ist trotz seiner trockenen und gewaltvollen Atmosphäre noch kein Independent-Kino, das Bollywood-Produktionen konträr gegenübersteht. Stattdessen werden die Stereotypen benutzt und unterwandert. Das beginnt damit, dass Titli sich hauptsächlich auf seinem Mofa durch Delhi bewegt und ein vorgetäuschter Mofaunfall einen der unangenehmsten Wendepunkte des Films darstellt. Es zieht sich aber auch symbolisch mit Titlis Namen durch den gesamten Film: ‘Titli’ heißt auf Hindi ‘Schmetterling’ und ist eigentlich ein Mädchenname. Gleichzeitig kann man den Film so lesen, dass Titli zu Beginn noch verpuppt ist und sich im Laufe des Films zu einem Schmetterling entwickelt, der die Grenze von wildem Slum zur bürgerlichen Idylle überschreiten kann – zumindest andeutungsweise.
Dennoch hat Regisseur Kanu Behl mit seinem Erstlingswerk durch die Aufführung in der Rubrik Un Certain Regard der Filmfestspiele in Cannes ein neues Bild des indischen Kinos vorgestellt. Es ist enorm erfreulich, dass das verdiente Filmlabel Rapid Eye Movies den Film ab dem 28. Mai auch in deutschen Kinos zugänglich macht; denn die ästhetisch-politischen Diskussionen, die der Film ermöglicht, sind für sich schon derartig spannend, dass die visuelle Schlagkraft der nicht selten an Jean-Pierre Melville gemahnenden Perspektiven und Farben “Ein Junge namens Titli” zu einem hochinteressanten Film machen, gleich, ob independent oder nicht.
Und für die szenischen Einstellungen lässt sich Kanu Behl Zeit. 124 Minuten ist der Film lang, und obwohl die Dramaturgie durchdacht ist, in feiner Regelmäßigkeit sich steigernde Höhepunkte und ein intelligentes Spiel mit Wendepunkten betreibt, wird die Ästhetik des Films vor allem durch die langen Shots auf urbane Landschaften geprägt. Dabei erinnert die Tristesse häufig an Noir-Filme wie Melvilles “Un Flic”, setzt der Kargheit aber den Staub und Dreck im Sonnenuntergang zwischen Hochhäusern hinzu. Sonnenuntergänge, deren Facetten vom Smog gebrochen in Neon-Farben leuchten, und von ähnlich grellen Energiesparlampen kontrastiert werden. Perspektivisch fallen besonders die mit Handkamera gedrehten Szenen auf, die den Protagonisten durch die Slums folgt oder verfolgt wird. Das passt als langsame und gleichzeitig nervös zittrige Bewegung in die Stimmung, setzt aber einen klaren visuellen Kontrastpunkt zu Noir- und Bollywoodästhetik. Sie begegnet den Akteuren auf Augenhöhe und suggeriert damit eine Realitätsnähe, die unmittelbar allerdings nicht gegeben ist.
Das hängt einerseits damit zusammen, dass der Film nicht so unabhängig produziert wurde, wie er beworben wird – und weshalb er auch dem Bollywood-Kino zuzurechnen ist: Yash Raj Films, eine der größten indischen patriarchal organisierten Produktionsfirmen, die auch die “Dhoom!”-Reihe produziert hat, ist für “Ein Junge namens Titli” verantwortlich. Wo man hier noch behaupten kann, man hätte es mit einem unabhängigen Film zu tun, der die Sehgewohnheiten durchbricht und dank der größeren Vermarktung ein breiteres Publikum finden kann, fällt dasselbe Urteil bei dem Schmetterlings-Märchennarrativ, das dem Film zugrunde liegt, etwas schwerer.
Andererseits hat mir aber “Dhoom!” ziemlich gut gefallen. Die Prise Kitsch unterwandert in Kombination mit Behls dokumentarischen Realitätsanspruch sowohl das Belehrende des Unterschicht-Dramas, wie den Eskapismus des Entertainment – man darf nur eben nicht in die Falle Tappen, “Ein Junge namens Titli” als negative Spiegelung der Realität zu sehen, als dunkle Unterseite des schillernden Bollywood-Kinos. Umgekehrt läuft es genauso ins Leere, mit den Protagonisten mitfühlen zu wollen. Das Schauspiel ist distanziert, die Haltung fragend. Wer Antworten will, verlässt besser das Kino und fängt an, sie zu geben.
Cover & Stills © Rapid Eye Movies
- Titel: Ein Junge namens Titli
- Originaltitel: TITLI
- Produktionsland und -jahr: Indien, 2014
- Genre:
Bollywood, Noir, Drama
- Erscheint: Ab dem 28.05.2015 in deutschen Kinos
- Label: Rapid Eye Movies
- Spielzeit: 124 Minuten
- Darsteller:
Shashank Arora (Titli)
Ranvir Shorey (Vikram)
Amit Sial (Pradeep)
Shivani Raghuvanshi (Neelu)
- Regie: Kanu Behl
- Drehbuch:
Kanu Behl
Sharat Katariya
Olivia Stewart
- Kamera: Siddharth Diwan
- Schnitt: Namrata Rao
- Musik: Karan Gourik
Wertung: 13/15 dpt