Packender Pageturner und die Suche nach Patient X

Eigentlich sollte es ein großes Abenteuer auf einer abgelegenen Farm werden. Ein Paintball-Spiel, in dem Emily und Richard Ogilvy sowie deren Sohn die Gejagten sind, Tochter Anna und deren Freunde Douglas und Indira die Jäger. Doch die Situation eskaliert nach dem Spiel. Douglas und Indira werden in ihrer Farmhütte mit je zehn Messerstichen ermordet, an der Tatwaffe befinden sich nur Fingerabdrücke von Anna, deren Klamotten blutverschmiert sind. Ein klarer Fall will man meinen, doch seitdem ist Anna in einen tiefen Schlaf gefallen. Sie leidet an einem Resignationssyndrom und dies inzwischen seit vier Jahren.
Das Justizministerium steht vor einem Dilemma. Amnesty International fordert die Freilassung von Anna, sieht deren jahrelange Unterbringung in einer Klinik als Freiheitsberaubung an, während das Ministerium auf eine Anklage wegen Doppelmordes drängt. Benedict Prince, forensischer Psychologe und Experte für Schlafmedizin, ist Seniorpartner der Londoner Schlafklinik „The Abbey“ und befasst sich dort vor allem mit Menschen, die im Schlaf Verbrechen begehen. Folglich ist er von Annas Fall angetan, zumal seine Ex-Frau Clara damals DI für die Thames Valley Police arbeitete und als erste Ermittlerin am Tatort war. Nach einer Beförderung zur DCI arbeitet sie nun in London bei der Metropolitan Police und wird in den Fall Anna erneut einbezogen, da sie schon damals maßgeblich beteiligt war.
„Ist uns allen bewusst, was wir im Schlaf tun? Können wir dafür strafrechtlich belangt werden? Wo hört das Bewusstsein auf, wann beginnt der Schlaf?“
Ben versucht Anna zu erwecken, aber wie soll dies nach vier Jahren möglich sein? Und wenn es ihm tatsächlich gelingt, kann Anna dann für die Taten belangt werden? Sie war ja angeblich nicht wach, also nicht bei Bewusstsein, sondern eine Schlafwandlerin? Die Verlegung von Anna nach „The Abbey“ bleibt trotz höchster Geheimhaltung nicht unbemerkt und schon reagiert das Netz. Blogger @suspect8 weiß auffällig viel über den Fall und schon bald gibt es Parallelen zu einem Doppelmord, bei dem Sally Turner ihre beiden Stiefsöhne erstochen hat. Auf den Tag genau zwanzig Jahre vor dem Fall von Anna O.
Wenn eine Schlafwandlerin mordet, ist sie dann schuldfähig?
Matthew Blake hat mit „Anna O.“ einen packenden Pageturner geschrieben, der ein nahezu unbekanntes Thema aufgreift; das Resignationssyndrom. Man denke an das alte Märchen von Dornröschen, deren Name bald als Spitzname für Anna im Netz kursiert. Medizinisch, psychologisch und nicht zuletzt juristisch ist der Fall interessant. Dass Anna die Tat begangen hat belegen alle Indizien und Fakten, doch hat sie dies schlafwandelnder Weise unbewusst getan oder führte sie die Tat im vollen Bewusstsein absichtlich aus und fiel erst anschließend in den Tiefschlaf? Oder war womöglich jemand im Hintergrund tätig, der sie zu der Tat angestiftet hat? Eine naheliegende Vermutung, denn würde man andernfalls knapp fünfhundert Seiten benötigen?
„Die Vergangenheit ist die einzige Möglichkeit, die Gegenwart zu heilen.“
„Eines der besseren Zitate von mir.“
„Ja, aber was ist, wenn Sie recht haben?“
Ganz so trivial ist die Geschichte jedoch keinesfalls, denn es besteht ja zudem die Möglichkeit, dass Ben Prince (eine schöne Anspielung auf das erwähnte Märchen), der von dem Fall immer besessener wird und seine ärztlichen Befugnisse mitunter überschreitet, von dem Wunsch beseelt ist, Annas Unschuld beweisen zu müssen. Offenbar gibt es ja den großen Unbekannten namens Patient X, der in einem Bericht zum Fall Sally Turner erwähnt wird. Der aktuelle Doppelmord fand in der Nacht des 30. August 2019 statt, die Doppelmorde von Turner am 30. August 1999. Naheliegend, dass die beiden Fälle zusammenhängen. Nur wie? Bens Vorgesetzte Professor Bloom, die damals am Fall Turner arbeitete, hat schnell einen vielversprechenden Verdacht, kommt jedoch nicht mehr dazu, diesen Ben mitzuteilen.
Erzählt wird die Geschichte in weiten Teilen von Ich-Erzähler Ben, unterbrochen von verschiedenen Kapiteln, die in Dritter Person erzählt werden und bei denen beispielsweise Emily, Clara, @suspect8 und andere in den Fokus gerückt werden. Dazu gibt es etliche Auszüge aus Annas Tagebuch, die im Januar 2019 beginnen und langsam aber sicher auf den Showdown sprich den Doppelmord hinsteuern. Am Ende folgt ein gelungener Twist, genaugenommen derer gleich zwei. Aufmerksames Lesen wird belohnt, gleichwohl lässt sich das Buch auch gut unterwegs „in Bus und Bahn“ bewältigen, da es aus sehr kurzen Kapiteln besteht, die ihrerseits (nicht nur) dank zahlreicher Cliffhanger für hohes Lesetempo sorgen.
- Autor: Matthew Blake
- Titel: Anna O.
- Originaltitel: Anna O. Aus dem Englischen von Andrea Fischer
- Verlag: Fischer Scherz
- Umfang: 480 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Juni 2024
- ISBN: 978-3-651-00126-8
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Wertung: 12/15 dpt