Junggesellenabschied mit fatalen Folgen

An der französischen Riviera will Fredrik Cederbeck, Sohn eines einflussreichen schwedischen Unternehmers, mit seinen Freunden Manfred Halvarsson, Ludwig Bergenrud und dem aus dem Irak stammenden Amir Yasin seinen Junggesellenabschied feiern. Doch in einer Bar in Juan-les-Pins gerät die geplante Sause zu einem Horrortrip, denn just als Amir neue Getränke an der Bar holen möchte, wird diese überfallen. Es kommt zu einer Schießerei mit zwei Toten und mehreren Verletzten. Ein neuer Terroranschlag in Frankreich?
Amir gerät mitten in das Chaos, wirft sich zu Boden und verliert vorübergehend das Bewusstsein. Einer der Attentäter, Omar Fazad, wird verletzt und liegt in der Folge längere Zeit im Koma. Amir, „der Ausländer“, wird festgenommen und für Untersuchungsrichter Philippe Duvernoy ist schnell klar, dass er zu den Tätern gehört. Warum hielt er sich zu diesem Zeitpunkt in der Bar auf? Warum trug er ähnliche Klamotten wie die Attentäter und warum stand er just in dem Moment an der Theke, als die Schießerei begann?
Amir war Musterschüler, ist bestens integriert und mit der Schwedin Hanna Fredriksson verlobt. Man hat zwei kleine Kinder und gewiss auch Heiratspläne. In seiner Kindheit kannte Amir, der in einem Problemviertel mit hohem Ausländeranteil aufwuchs, Salesh Hadadi kennen. Beide haben seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr, doch da Hadadi inzwischen nach Syrien zurückgelehrt ist und dort Kontakt zum IS hat, macht dies die Situation für Amir nicht besser.
„Manfred, du bist der Jurist. Natürlich hast du recht. Aber hier geht es um einen Terroranschlag. Nur Monate nach Charlie Hebdo! In Frankreich herrscht Ausnahmezustand. Viele betrachten das als Kriegserklärung. Ich wäre mir nicht sicher, ob deine Menschenrechtskonvention im Moment so hoch im Kurs steht.“
Das Fleury-Mégoris-Gefängnis in Paris ist das größte Gefängnis Europas. 4.500 Gefangene auf 180 Hektar. Hier sitzt Amir in Untersuchungshaft, denn die genannten Indizien belasten ihn schwer, zumal sich der ehrgeizige Duvernoy nicht vorwerfen lassen will, einen möglichen Terroristen laufen gelassen zu haben. Seine schwedischen Freunde haben derweil die Flucht in die Heimat angetreten, was ebenfalls keine Hilfe für Amir ist. Während deren Freundschaft zerfällt, bricht für Amirs Familie vieles zusammen. Seine Eltern und die Kinder werden geschnitten, denn es muss ja einen Grund haben, warum er im Gefängnis sitzt. Dort verbleibt er ohne Prozess über ein Jahr und erst als sich Esther Edh und Fabia Moretti von Eurojust einschalten, entsteht ein zarter Lichtblick.
Eurojust, die „unbekannte“ Behörde
Frankreich ist einer der modernsten Rechtsstaaten Europas und gleichzeitig eines der Hauptziele für islamistisch bedingte Terroranschläge. Daher verwundert es zunächst wenig, dass Untersuchungsrichter Duvernoy Amir der Mittäterschaft verdächtigt und keinerlei Risiko eingehen will. Dabei hat er in seiner Funktion hohe Kompetenzen als wäre in Deutschland Richter und Staatsanwalt eine Person. Funktionierende Kontrollmechanismen sind nicht erkennbar und so kommt es, dass der unschuldige Amir über ein Jahr in Untersuchungshaft sitzt, viele Monate davon in Isolationshaft, welche für Menschenrechtsorganisationen über einen längeren Zeitraum nichts Anderes als Folter darstellt.
„Herr Yasin, die schwedischen Behörden haben leider gar keine Möglichkeit, Einfluss auf das Rechtswesen in anderen Ländern zu nehmen. Das Einzige, was wir tun können, ist – auf diplomatischem Wege – Protest einzulegen, sollte am Rechtsverfahren oder am Lauf der Ermittlungen etwas auszusetzen sein. Aber in einem Land wie Frankreich würden wir das eher nicht erwarten.“
Edh und Moretti arbeiten für Eurojust, eine eher unbekannte Agentur der EU, welche für die justizielle Zusammenarbeit bei Strafverfahren innerhalb Europas zuständig ist. Sie koordiniert und gibt Informationen weiter, eigene Ermittlungen darf sie nicht anstellen. So sind den Beiden zunächst die Hände gebunden, wenngleich im weiteren Verlauf klare Hinweise vorliegen, dass es sich womöglich gar nicht um einen Terroranschlag handeln könnte und zudem Amir gänzlich unbeteiligt war; wie er vom ersten Tag seiner Verhaftung an immer wieder betont hat. Es hätte halt mal jemand ernsthaft zuhören müssen. Aber, wie bereits erwähnt, ist Amir gebürtiger Iraker und gerät daher unter Generalverdacht. Seinen schwedischen Freunden wäre dies sicher erspart erblieben. So findet das allgegenwärtige Thema Rassismus einmal mehr statt.
Maria Thunberg Schunke macht es dem Leser einfach mit Amir zu „sympathisieren“, denn er gilt nie wirklich als verdächtig. Einige Indizien mögen gegen ihn sprechen, aber man weiß es im Gegensatz zum Untersuchungsrichter halt besser. Wäre diese Frage jedoch offen, würde man die Arbeit und Verbissenheit von Duvernoy womöglich ein wenig anders bewerten. Der Autorin gelingt es gut, beide Seiten darzustellen. Jene der Ermittlungsbehörden, die nicht erst seit dem Anschlag auf Charlie Hebdo, äußerst angespannt sind und andererseits das zunehmende Verzweifeln von Amir und seinem Umfeld. Der Anschlag auf Charlie Hebdo fand am 7. Januar 2015 statt, der Überfall auf die Bar in Juan-les-Pins gut einen Monat später am 12. Juni.
„Ein höheres Ziel“ beleuchtet den Terrorismus und die Schutzvorkehrungen der EU ebenso wie die Menschenrechtsaspekte und verdichtet dies zu der Frage, inwieweit man den Schutz des Einzelnen aushebeln darf? Darf eine einzelne Person (Amir) für ein höheres Ziel (Terrorbekämpfung) „geopfert“ werden? Wo bleiben Kontrollmechanismen, die das Wirken einer einzelnen Person (Untersuchungsrichter Duvernoy) einschränken? Von Diktaturen und Autokratien darf man nicht viel erwarten, von einem Rechtsstaat wie Frankreich hingegen schon. Ein leichtes Unbehagen beschleicht den Leser, denn man könnte ja selber in eine derartige Situation zufällig hineingeraten. Zumindest dann, wenn man die „falsche“ Haut- und Haarfarbe hat.
Edh und Moretti hinterlassen etliche Fragezeichen zu ihren Personen und persönlichen Hintergründen, die in Folgebänden sicherlich aufgeklärt werden. Diese sind zu erwarten, denn der herausgebende Polar-Verlag hat „Ein höheres Ziel “ als Beginn einer Reihe angekündigt. Dann wird man vielleicht noch intensivere Einblicke in die Rolle und Arbeit der unbekannten Eurojust erhalten.
Eine abschließende, völlig „abwegige“ Frage sei noch gestattet. Auf Seite 140 heißt es hinsichtlich der Indizien gegen Amir: „Auf eigene Initiative ist er runtergegangen, um etwas zu trinken zu holen, obwohl er die Gläser für vier Personen gar nicht hätte hochtragen können.“ Warum sollte ein erwachsener Mann (oder eine Frau) nicht dazu in der Lage sein, vier Gläser … Ok, tut jetzt nichts zur Sache, aber verstehen muss man es nicht. Sei’s drum: Der Roman ist eine klare Empfehlung!
- Autorin: Malin Thunberg Schunke
- Titel: Ein höheres Ziel
- Originaltitel: Ett högre Syfte. Aus dem Schwedischen von Stefanie Werner. Mit einem Nachwort von Sonja Hartl
- Verlag: Polar
- Umfang: 376 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: März 2025
- ISBN: 978-3-910918-18-4
- Produktseite

Wertung: 12/15 dpt
Vielen Dank, dass Sie meinen Roman gelesen haben. Es war interessant Ihre Gedanken darüber zu lesen und es freut mich, dass Ihnen das Buch gefällt. Liebe Grüße Malin Thunberg Schunke