Phytopia Plus – Pflanzen der Zukunft für ein Leben nach dem Tod
Aylin lebt Mitte des 21. Jahrhunderts im Süden Hamburgs. Ihr Stadtteil verfügt nicht über geeignete Infrastruktur, um dauerhaft den Auswirkungen des Klimawandels standzuhalten. Im Norden leben die Wohlhabenden in hermetisch abgeriegelten und geschützten Wohnsiedlungen. Den ärmeren Einwohnern bleiben baufällige Wohnungen in maroden Gebieten, der Dürre und Versumpfung ausgesetzt. Aylin und ihr Großvater leben in unmittelbarer Nachbarschaft der Elbpassagen, einer aufgrund von Einsturzgefahr abgesperrten Shoppingmall. Einen kargen Lohn verdient sie als Aushilfe in den Gewächshäusern der Drosera A.G, wo ihr und den Kolleg:innen die KI Bella die täglichen Aufgaben vorgibt. Sowie die Zeit, in der sie zu erledigen sind. Die Drosera A.G. entwickelte ein Verfahren, um die Erinnerungen eines Menschen in Pflanzen zu speichern. Das Phytopia Plus Geschäft boomt. Die Kosten von 350 000 Euro hält die gut betuchte Klientel nicht davon ab, sich einen Gedächtnischip implantieren zu lassen, dessen Daten nach dem Tod in die Zellen der gewünschten Pflanze integriert werden.
Mit Leidenschaft und einem Ziel vor Augen
Das Gärtnern ist Aylins große Leidenschaft. Nicht nur im Job, auch zu Hause pflegt sie liebevoll ihre Pflanzen. Einige hat sie verbotenerweise vom Arbeitsplatz in Form von Stecklingen mitgehen lassen und vermehrt. Denn aufgrund einer ungewöhnlichen Zeichnung der Blätter lassen sie sich besonders gewinnbringend auf Onlineplattformen verkaufen. Das hohe Risiko der illegalen Geschäfte nimmt Aylin in Kauf, denn sie hat ein Ziel vor Augen: Das Leben ihres Großvaters soll auf einer Drosera-Pflanze gespeichert werden und der Nachwelt erhalten bleiben. Als Aylin erfährt, dass es ein firmeninternes Speicherprogramm für Angehörige von Mitarbeitenden gibt, das nur die Hälfte kostet, weitet sie ihren Pflanzengarten auf das Dach der Elbpassagen aus. Ihr leicht dementer Großvater kann ihr hier beim Gärtnern helfen. Doch als in den Gewächshäusern der Drosera A.G. Pflanzen sterben, wächst die Gefahr einer Entdeckung.
Eine Gesellschaft am Abgrund, Pflanzen, die reden und Erinnerungen, die ewig währen
Pflanzen sind in der fiktiven Zukunft, die die Hamburger Autorin Zara Zerbe in „Phytopia Plus“ zeichnet, sehr viel wertvoller und bedeutender als in unserer Realität. Frisches Gemüse muss Aylin gegen ihre Zierpflanzen eintauschen, denn in ihrem Supermarkt gibt es keines zu kaufen. An Zierpflanzen scheint selbst die reiche Bevölkerungsgruppe im Norden nur bedingt heranzukommen. Obwohl Aylin versucht, einen möglichst hohen Profit herauszuschlagen, bezahlen ihr Kundinnen bereitwillig. Und das dem Geldverdienen mit Pflanzen, die die Erinnerungen Verstorbener speichern, ein höherer Stellenwert eingeräumt wird als der Versorgung der Bevölkerung, verwundert in einer Zeit des Turbokapitalismus nicht.
Die Endgültigkeit der Sterblichkeit zu überwinden, ein Hauch von ewigem Leben klingt verlockend und lässt man sich gern etwas kosten. Selbst in biologischer und technischer Hinsicht erscheint die Idee, Erinnerungen in Pflanzen zu speichern, nicht so abwegig. Immerhin bringen Pflanzen ihre eigene Energieversorgung mit und DNA ist immer noch ein sehr viel effizienterer Speicher von Informationen als jeder noch so moderne elektronische Chip. Auch die Kehrseiten dieses Verfahrens werden plausibel herausgearbeitet.
Kommt da noch mehr?
Trotz der detaillierten Beschreibungen gesellschaftlicher und klimatischer Missstände ist es kein trostloses Doomsday-Szenario, das die Autorin für „Phytopia Plus“ entworfen hat. Aylin ist ein lebensfroher Mensch und versucht aus den Möglichkeiten, die sich ihr bieten, das Beste für sich und ihren Großvater herauszuholen. Der einst aus dem Balkan eingewanderter Gärtner ist Aylins wichtigster Bezugspunkt. Sie kümmert sich rührend um ihn und schätzt seine Erfahrung und Sicht der Dinge. Trotzdem eine beginnende Demenz den Umgang miteinander nicht immer einfach macht. Aylin und Großvater Harun sind Sympathieträger und differenziert gezeichnete Charaktere, die interessante und herzerwärmende Gespräche führen. Weitere Nebenfiguren wie Aylins Freundin Samira oder ihr Kollege Joe bleiben im Vergleich eher blass, setzen aber trotzdem originelle Akzente.
Geistreiche Gedanken formulieren auch die Pflanzen als kollektives Bewusstsein. Des Weiteren poppen geheimnisvolle radikale Texte auf Aylins Computer auf und geben Einblicke in die feministische Philosophie der Französin Simone Weil. Leider verbleiben diese Teile der Handlung an der Oberfläche und ihre Bedeutungen rätselhaft. Wird Zara Zerbe in einem weiteren „Phytopia“ Band tiefer in diese Thematik eindringen? Insgesamt lässt das Ende viele Fragen offen, was einerseits Lesenden Raum für Spekulationen bietet, andererseits etwas unbefriedigend wirkt. Zu den positiven Seiten dieses Finales zählt jedoch die Botschaft, dass sich Mut und Zivilcourage auch unter schwierigen Umständen auszahlen. Und Hoffnung darauf vermitteln, dass Empathie und Würde als Werte unserer Gesellschaft auch in Zukunft zählen.
“Phytopia Plus” wurde im Jahr 2024 mit dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet. Wieder einmal zeigt sich, dass dieser Literaturpreis innovative und hochwertige Phantastik-Literatur jenseits des Mainstream auszeichnet, die stets lesenswert ist.
- Autorin: Zara Zerbe
- Titel: Phytopia Plus
- Verlag: Verbrecher Verlag
- Erschienen: 03/2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 271
- ISBN: 978–3‑95732–581‑5
- Sonstige Informationen:
- Produktseite beim Verlag

Wertung: 12/15 dpt