Taffy Brodesser-Akner – Die Fletchers von Long Island (Buch)

Die jüdisch-amerikanische Familie Fletcher ist reich. Enorm reich. Übertrieben reich. So reich, dass die Nachbarn – als Familienvater Carl entführt wird – abends in ihren Betten tuscheln: „Warum nicht wir? Warum sind wir nicht reich genug, um entführt zu werden?“ In Long Island vor der Metropole New York wohnt die höhere Mittel- und Oberklasse. Wer wie die Fletchers in Geld schwimmt, hat seine Anwesen auf den prestigeträchtigen Grundstücken am See. Und so zahlt die Familie auch ohne Probleme das Lösegeld von 250 000 Dollar. Wahrscheinlich aus der Portokasse der Styropor-Fabrik, die Zelig Fletcher, ein Holocaust-Überlebender, gegründet hat. Carl wird nach der Geldübergabe als geschundenes und verstörtes Entführungsopfer auf dem Mittelstreifen vor einer Tankstelle aufgefunden, und die Familie geht möglichst schnell wieder zur Tagesordnung über.

Später wird seine Ehefrau Ruth sagen, dass die Entführung und die Art, wie sie alle danach damit umgegangen sind, einen Ehemann aus Carl gemacht hätten, der genauso gut ein Sofakissen sein könnte. Damit sind zwei Dinge klar: Die Autorin Taffy Brodesser-Akner erzählt diese Familiengeschichte im denkbar schwärzesten Humor. Und selbst viel Geld macht nicht glücklich. Das beste Beispiel dafür sind die Leben der drei Geschwister: Beamer gibt sein Geld, das ohne sein Dazutun alle drei Monate auf sein Konto fließt, mit vollen Händen für Dominas, teure Flüge, den Dermatologen seiner eher unterkühlten Ehefrau Noelle, Drogen, Medikamente und etliche andere Dinge aus. Geld muss er nicht verdienen, deshalb ist es auch nicht lebensentscheidend, dass er als Drehbuchautor auch die zigste absurdeFilm-Idee rund um eine Entführung nicht an den Produzenten bringen kann. Der älteste Bruder Nathan gibt seine Geldmengen vor allem für Versicherungen aus, die sein Leben mit Frau und Kindern vor allem schützen sollen, was einem im Leben halt so zustoßen könnte. Und die Jüngste der Familie, die kurz nach der Entführung geborene Jenny, will endlich ein Leben ohne Geld führen, bricht eine Ausbildung nach der nächsten ab, engagiert sich in ihrem einsamen Leben brennend in der Gewerkschaft, verschenkt ihr Geld und nutzt es möglichst nicht, dass sie hochintelligent eigentlich etwas Besseres mit ihrem Leben anfangen könnte.

Die Fletchers waren die strahlende Verwirklichung des jüdisch-amerikanischen Traums, eine Familie, die sich den Teller füllen konnte mit allem, was das Land zu bieten hatte.

Und dann geschieht es eines Tages: Die Styropor-Firma hat sich von einem Abnehmer abhängig gemacht, der insolvent geht, und der Geldhahn ist von einem auf den anderen Tag zu. Zum ersten Mal erfahren die drei, wie sich das so wirklich anfühlt: nämlich keine Einkünfte mehr und keine Rücklagen zu haben, denn entweder haben sie ihr Geld falsch angelegt, verpulvert oder verschenkt. Willkommen in der sorgenvollen Welt der Normalsterblichen! Selbst Carl wacht für kurze Momente aus seiner Lethargie auf und beschäftigt sich mit der Realität.

Taffy Brodesser-Akner gibt allen Geschwistern und den Eltern sehr lange, eigene Kapitel – und so lernt man das Leben vor und nach einer Entführung sowie vor und nach der Pleite aus vielen verschiedenen Perspektiven lernen, die sich immer wieder überschneiden. Die Beerdigung von Großmutter Phyllis ist zum Beispiel eine dieser Schnittstellen, die sich bei allen Beteiligten in ihren Perspektiven findet. Das alles hat nicht immer ein direkt erkennbares Ziel, wenn man in Kindheit, Jugend und erwachsenem Leben der Protagonisten eintaucht. Die Autorin nimmt sich Zeit, nutzt aber auch jede kleinere oder größere Abschweifung dazu, aus dem vollen Leben zu schöpfen. Man lernt sie alle sehr gut kennen: Den charmanten Windbeutel Beamer, der damals als Vierjähriger mit seiner Mutter und dem Lösegeld durch die Gegend fuhr, um den Anweisungen der Entführer zu folgen. Den hypernervösen und jederzeit ängstlichen Nathan, der zwar damals die Entführung des Vaters nicht verstanden hat, aber sich in all der Ängstlichkeit und Unruhe der Erwachsenen letztendlich wohl gefühlt hat. Und die revolutionäre Jenny, die die Entführung nur im Bauch der Mutter miterlebt hat, aber dennoch ihr gesamtes Leben verächtlich gegen Regeln und Geld protestiert und sich eigentlich doch uneingestanden nach der guten, alten Welt von Long Island sehnt. Mutter Ruth hat als einzige der Familie auch Zeiten mit wenig Geld kennengelernt und hatte sich eigentlich gedacht, mit der Heirat und dem Geld des Ehemannes Schutz und Sicherheit zu finden. Und schließlich Carl, der ganz zum Schluss des Buches mit seiner traumatischen Erfahrung während seiner einwöchigen Entführung in den Mittelpunkt rückt.

Was macht es mit einem, wenn das Geld im Überfluss vorhanden ist? Und was, wenn es nicht vorhanden ist? Wie geht man mit einem Trauma um? Wie funktionieren Familien – oder funktionieren halt nicht? Und wie ehrlich kann man zu sich selbst und zu anderen sein? All diese Themen finden Platz in dieser Familiengeschichte, ohne dass sie zerfasert wirkt.

Fazit:

Jede Menge Handlung, Verwicklungen, Wendungen und immer wieder die richtige Portion Ironie, trockener Humor und Sarkasmus machen „Die Fletchers von Long Island“ zu einem absolut unterhaltsamen Familienroman. Autorin Taffy Brodesser-Akner lässt zwischendurch auch durchaus die ein oder andere inhaltliche Bombe platzen, mit der man nicht gerechnet hat – wie bei einem immer detailreicher werdenden Puzzlespiel geht den Lesern öfter mal ein Licht auf. „Die Fletchers von Long Island“ sind einfach nur guter Stoff für lange und genüssliche Lese-Sessions.

Wertung: 15/15 dpt

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