Verlust der Unschuld

Eigentlich sollte es endlich ein ruhigeres Leben für die fünfzehnjährige Ámbar geben. Jahrelang reiste sie mit ihrem Vater, dem gefürchteten Gangster Victor Mondragón durch Argentinien. Abgelegene Orte, heruntergekommene Hotels und Motels, einsame Landstraßen und immer wieder ausufernde Gewalt. Jetzt, so scheint es, hat Victor den Absprung geschafft und verdient als Lastkraftwagenfahrer sein Geld, doch dann geraten er und sein bester Freund Giovanni an einer Tankstelle in eine Schießerei.
Giovannis Mörder ist der Auftragskiller Robert Alvarado Saorias, der auf den Guaraní-Namen Mboi hört. Sein Kennzeichen ist eine auffälliges Schlangentattoo am Unterarm, woraus Ámbar einmal mehr widerwillig lernt, dass Tattoos keine gute Idee sind, denn daran kann man erkannt werden.
„Du weißt doch, dass sich drinnen alle einen Dolch mit einer Schlange stechen lassen. Tod den Bullen.“
„Der, von dem ich rede, wollte Giovannis und meinen Tod. Und zur Hälfte hat er es geschafft.“
Diese ist eine von vielen Regeln ihres Vaters, der nach Rache sinnt. Dass er dabei nicht zimperlich ist und selbst keine Gefahr scheut, bezeugt sein Körper, dessen zahlreiche Narben einer Landkarte ähneln.
„Ein Auftragskiller, sagt Papá, als wir ankommen, und ja, er bringt Leute um, aber er gehört zu den Guten. Ich habe keine Ahnung, wie ein Auftragskiller einer von den Guten sein kann.“
Ámbar kennt nach dem Tod ihrer Großmutter, wo sie lange lebte, nachdem ihre Mutter aus ihrem Leben verschwand, nur die Schattenseiten. Immer auf der Flucht, immer in Bewegung oder mal in einem muffigen Hotelzimmer an der Spielekonsole auf die Rückkehr des Vaters warten, denn jemand muss ja seine neuen Wunden versorgen. Davon gibt es immer reichlich, Victor zieht das Pech magisch an.
„Als ich zwölf war, hat Papá mir beigebracht, Kugeln zu entfernen und Wunden zu nähen. Mit dreizehn habe ich schießen gelernt und ein paar Monate später, wie man ein Auto kurzschließt.“
Ámbar lebt in einer patriarchalischen Gesellschaft, wenn man von Eleonora, Victors früherer Chefin, einmal absieht.Sie wird von allen ehrfürchtig Großmutter genannt und öffnet Ámbar erstmals die Augen über ihren Vater, denn dieser verbirgt einige Geheimnisse, die ihre bisherigen Überzeugungen auf eine harte Probe stellen.
Preisgekrönt und fern abseits des Mainstreams
„Ámbar“, mit dem Premio Hammett im Jahr 2023 ausgezeichnet, erreichte im März 2025 den Einzug in die Krimibestenliste. Es ist ein recht kurzer, aber umso beachtenswerter Roman, der einen eher ungewohnten Mix aus Thriller, Roadmovie und Coming-of-Age darstellt. Die gewaltverherrlichende Männerwelt ist dabei für Außenstehende ebenso abstoßend wie unfreiwillig komisch, was zahlreiche Dialoge belegen. Sprüche aus der Unterschicht, wo man sich nicht anders zu helfen weiß. Zurückschlagen ist gut, noch besser ist es, wenn man zuerst zuschlägt. Und so weiter.
„Die Zähne waren so schlecht gemacht, dass man schon von Weitem sah, dass sie falsch waren. Deshalb habe ich immer den Mund geschlossen gehalten. Unglaublich, was für einen Ärger man sich erspart, wenn man die Klappe hält.“
Der harte Noir kommt zunächst als Rache-Thriller daher. Giovanni wurde erschossen, Victor will ihn rächen. Informationen über den Mörder und dessen Aufenthaltsort sind nur mit Gewalt herbeizuschaffen, denn Verräter leben bekanntlich nicht lange. So bekommt man einen ersten, blutgetränkten Eindruck vom Vater, der seine Tochter auf seine Weise liebt und gleichwohl eine Gefahr für sie darstellt. Ist man in den Roman eingetaucht, so zeigt dieser bald ein anderes Gesicht, denn Ich-Erzählerin Ámbar ist – wie erwähnt – erst fünfzehn Jahre jung. Gleichwohl hat sie schon viel zu viel für ihr Alter gesehen, allerdings nur die negativen sprich brutalen Aspekte des Lebens. Für eine Freundin oder gar einen Freund war nie Zeit, denn nur selten hielt man sich lange an einem Ort auf.
„… was hältst du davon, wenn ich dich von heute an Ambareté nenne?“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Mbareté heißt stark auf Guaraní. Es passt zu dir.“
Ámbar ist ein Coming-of-Age, dessen Protagonistin viel zu früh und auf erschreckende Weise in die Welt der Erwachsenen hineingezogen wird. Fragen bleiben oft unbeantwortet, beispielsweise jene, warum ihre Mutter sie verlassen hat. Ámbar und Victor gehören zu den Guaraní, mit etwa 225.000 Menschen eines der größten indigenen Völker Südamerikas, was gelegentlich zu Ausdrücken in deren Dialekt führt.
Man muss den Roman aufmerksam lesen und sollte dies auch, denn neben herben Dialogen entwickelt sich eine Handlung, die einige überraschende Wendung erfährt. Es ist eben nicht nur ein Rache-Thriller, der auf Selbstjustiz setzt – (nicht nur) Fans von Castle Freeman dürften daher an dem Roman Gefallen finden –, sondern deutlich vielschichtiger. Man leidet mit der Hauptfigur aus vielerlei Gründen und fragt sich, ob es einen Ausbruch aus dem von Gewalt geprägten Leben überhaupt für sie geben kann? Der Verlust der Unschuld, das darf verraten werden, ist für Ámbar jedenfalls unvermeidbar.
- Autor: Nicolás Ferraro
- Titel: Ámbar
- Originaltitel: Ámbar. Aus dem argentinischen Spanisch von Kirsten Brandt
- Verlag: Pendragon
- Umfang: 312 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Februar 2025
- ISBN: 978-3-86532-901-1
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Wertung: 13/15 dpt