
Ein Buch über das Verrücktsein, geflossen aus einer flinken Feder. Ein umfangreiches, aber geschmeidig zu lesendes, essayistisches Werk, das uns in die Höhen der Philosophie mitnimmt und mit uns in die Schluchten psychiatrischer Unterdrückung und Sprachlosigkeit hinabsteigt. Mal reflektierend, dann wiederum erzählend werden Themenkomplexe wie unter anderem die Stigmatisierung und Diskriminierung „psychisch Kranker“ in heutiger Zeit, die Aufarbeitung der Verfolgung von „Schizophrenen“ in der NS-Zeit, aber auch das Erleben in einer Psychose angesprochen. Dabei nimmt Lea de Gregorio, Journalistin, konsequent die Perspektive derer ein, die psychische Krankheiten aus eigener Erfahrung kennen. Dem oft als Nabelschau belächelten Blickwinkel der „Betroffenen“, der neben dem elaborierten Code der „Professionellen“ angeblich steil abfällt, wird hier ein nicht minder reflektierter Diskurs entgegengesetzt. Manchmal klingt es fast so, als diene der reichhaltige philosophische Überbau dazu, die Bedrohlichkeit der Betroffenheit und der damit verbundenen sozialen Abwertung zu bannen. „Abwertung von Verrückten, und Rassismus gegenüber Schwarzen sind zwei völlig unterschiedliche Diskriminierungsformen, aber die ‚Idee‘, durch Bildung an ‚Wert‘ zu gewinnen, findet sich sicherlich bei vielen Menschen, die strukturell diskriminiert werden“, räumt die Autorin ein.
Dass Menschen mit psychiatrischen Diagnosen Stigmatisierungen ausgesetzt sind, beschreibt Lea de Gregorio in verschiedenen Passagen ihres Buches. Dabei spricht sie auch von eigenen Erfahrungen: Eine Bewerbung um ein Volontariat scheiterte in letzter Instanz, weil sie „nicht selbstbewusst genug“ aufgetreten sei. Sie überlegt: „Wäre der Redakteur so selbstbewusst gewesen, wenn er selbst diese erniedrigenden Erfahrungen in der Psychiatrie, die Diskriminierung und Unterdrückung erlebt hätte?“ Die meisten Symptome einer psychischen Erkrankung kommen nicht von dieser selbst, sondern sind die Folge der Begleitumstände wie der Verlust von sozialem Ansehen und von Lebenschancen, die Erfahrung von Geringschätzung und Erniedrigung. Das Bewusstsein dafür ist in der breiten Öffentlichkeit aber nur sehr schwach ausgeprägt. Hier setzt die Autorin neue Impulse, indem sie alle Register dessen zieht, was man „psychisch Kranken“ normalerweise nicht zutraut: eine geschliffene Sprache, profundes Wissen, Distanz zum behandelten Gegenstand – und zugleich die Fähigkeit zu Wärme und Emotion.
Eine Persönlichkeit, der im Buch eine Schlüsselrolle zukommt, ist Dorothea Buck (1917-2019). Die Bildhauerin und spätere Autorin war eine Pionierin der antipsychiatrischen Bewegung im Hamburg der 1980er und der 1990er Jahre. In ihrer bahnbrechenden Autobiografie „Auf der Spur des Morgensterns“ würdigt sie ihre eigenen Psychose-Erlebnisse als etwas Positives, als „Aufbruch des Unbewussten“ und als „sinnhafte Gleichzeitigkeit von Geschehnissen“. Damit hat sie auch der jungen Journalistin Lea de Gregorio einen Weg geebnet, über die übliche negative Sichtweise hinauszugelangen. Die persönliche Begegnung mit Dorothea Buck im Jahr 2018 war ein Impuls für den Titel des Buches. Die Hundertjährige
soll zu der Autorin gesagt haben: „Dann sagen wir auch du. Alle Verrückten sagen du.“
In jeder Passage ihres Textes sucht Lea de Gregorio nach der angemessenen Terminologie. Dies wird besonders im ersten Viertel reflektiert. Politische Correctness gegenüber den verschiedenen marginalisierten Gruppen, angemessenes Gendern, all das muss neue Bezeichnungen finden. Die Autorin wählt die Bezeichnung „Verrückt“ als einen wertneutralen Arbeitsbegriff, den sie gegenüber wertenden Bezeichnungen wie „betroffen“ oder „psychisch krank“ bevorzugt: „Die Philosophin und Ärztin Andrea Moldzio schreibt von ,einer ‚Verrückung‘ des Daseins (…) Ich finde, dass das Wort noch etwas anderes gut beschreibt – und zwar das gedankliche und tatsächliche Verrücken der Betroffenen an den sogenannten gesellschaftlichen Rand.“
Die Bewegung der Psychiatrie-Betroffenen ist uneinheitlich, sie unterliegt vielfältigen Strömungen. Hier zu einer gemeinsamen Sprache zu finden, um seine Rechte besser verteidigen zu können, ist wichtig. „Unter Verrückten sagt man Du“ ist ein anregend geschriebenes Sachbuch, das nicht nur unterhalten, sondern auch bei der Orientierung im Dschungel der Begrifflichkeiten helfen kann. Das Buch richtet sich an ein
gesellschaftspolitisch interessiertes Publikum, an sozialkritisch Aktive und an die verschiedenen Beteiligten in der Psychiatriebranche, die ihr Bewusstsein für die Debatte schärfen wollen. Nicht zuletzt ist es für Betroffene geschrieben, die sich nicht länger klein machen lassen wollen. Lea de Gregorio fordert: „Um mit Kritik gehört zu werden in der Gesellschaft, um den Schutz zu bekommen, den wir brauchen und der stark macht, anstatt uns zu schwächen, und auch um wir selbst sein zu können: Für all das brauchen Verrückte Verbündete.“
Die Autorin, die für namhafte Zeitungen und Zeitschriften schreibt, wie TAZ, ZEIT online, ZEIT und dem Tagesspiegel, legt hier ein mutiges, reflektiertes und sehr aufgeräumtes Buch vor.
Mit ihm erbringt sie eine Pionierleistung: Lea de Gregorio baut eine Brücke zwischen der Nische der Erfahrungsberichte Psychiatrie-Erfahrener und der Welt der Hochliteratur.
- Autor: Lea De Gregorio
- Titel: Unter Verrückten sagt man du
- Verlag: Suhrkamp
- Erschienen: 03/2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 297
- ISBN: 978-3-518-47430-3
- Sonstige Informationen:
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