Frank Tallis – Die Liebermann-Papiere (Buch)

Wien im Jahr 1902. Doktor Maxim Liebermann verlässt nach einer Unterredung mit seinem Vater das Hotel Imperial und wartet auf eine Kutsche, da ein starkes Unwetter aufgezogen ist. Doch als diese naht, erscheint unvermittelt sein bester Freund Oskar Rheinhardt, Inspektor beim Wiener Sicherheitsbüro, den ein dringender Fall zum Karmelitermarkt in der Leopoldstadt ruft. Das Hausmädchen von Charlotte Löwenstein vermisst eben jene und hegt den Verdacht, dass sich diese in ihrem Salon aufhält. Dort hält Löwenstein als Medium regelmäßig Séancen. Es gibt allerdings ein Problem, denn der Raum ist von innen verschlossen; der Schlüssel steckt im Schloss. Rheinhardt und sein Mitarbeiter Haussmann öffnen die Tür gewaltsam und finden auf der Chaiselongue die gesuchte Löwenstein. Ein Schuss ins Herz offenbart die Todesursache, ein Abschiedsbrief legt einen Selbstmord nahe.

„Die Lehre Lombrosos, dass man einen Verbrecher an der Größe seines Kinns oder der Platzierung seiner Ohren erkennen kann, hat viele Anhänger. Ich hege jedoch nur wenige Sympathien für diese Schule.“

Der Fall scheint völlig vertrackt. Nicht nur war der Salon von innen abgeschlossen, gleiches galt auch für sämtliche Fensterläden. Die Tatwaffe, offenbar eine Pistole, fehlt ebenfalls und die Leichenschau ergibt, dass sogar die tödliche Kugel fehlt, obwohl keine Austrittswunde ersichtlich ist. Rheinhardt ist überfragt und bittet seinen Freund Max um Hilfe, der durch fragwürdige Methoden beruflich in Ungnade zu fallen droht. Die aus England stammende Miss Lydgate reiste nach Wien, um dort Medizin zu studieren, was seit kurzer Zeit für Frauen möglich ist. Es kam jedoch anders, denn durch einen traumatisierenden Vorfall, leidet sie angeblich unter Hysterie. Eine Gelegenheit für Max, eine neue Methode anzuwenden; die Psychoanalyse von Professor Freud. Die Psychiatrie des Allgemeinen Krankenhauses leitet indessen Professor Gruner, der in diesen Fällen auf die unmenschliche Elektrotherapie setzt.  

„Mit Verlaub, Oskar, das ist kein statthaftes Vorgehen. Das entbehrt jeder Eleganz. Wunschdenken darf bei einem Prozess, der zu einer zufrieden stellenden Lösung führen soll, keine Rolle spielen.“

Im Mordfall Löwenstein bleibt der Tathergang ein großes Mysterium, gar von übernatürlichen Kräften ist schnell die Rede, während die Teilnehmer der letzten, geplanten Séance in den Fokus der Ermittlung geraten. Ein illustrer Kreis mit einem Bankier nebst Gattin, einem Unternehmer für chirurgische Geräte, einem finanzschwachen Graf aus Ungarn, einem arbeitslosen Zauberkünstler sowie einer einfachen Näherin. Nicht wenige Mitglieder der Gruppe haben Angst vor den Ermittlungen, haben sie doch alle ihre kleineren oder größeren Geheimnisse.

Auftakt der Doktor-Liebermann-Reihe

Mit „Die Liebermann-Papiere“ startete die Doktor-Liebermann-Reihe, die ursprünglich als Trilogie angekündigt war. Inzwischen sind sieben Bände erschienen. Der Auftakt ist vielversprechend, verwendet und vermischt wohlbekannte Genrezutaten gekonnt zu einem spannenden Fall. Es gilt zwei Dinge zu klären: Wie konnte der Mord in einem von innen verschlossenen Raum (Locked-Room-Mystery) geschehen und wer war der Mörder? Dabei wechselt die Handlung nicht nur zwischen den beiden Protagonisten Rheinhardt und Liebermann, sondern zudem immer wieder zu den Teilnehmern der Séance. Deren Heimlichkeiten führen zu gelungenen Blindspuren, denn irgendwie erscheinen (natürlich) alle verdächtig.

Aus historischer Sicht betrachtet ist der Roman ebenfalls interessant. Es gibt teils verstörende Einblicke in den medizinischen Stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie den Streit zwischen klassischer Medizin und Psychoanalyse. Sigmund Freuds Buch „Die Traumdeutung“ lässt grüßen, während die mitunter seltsam erscheinenden Befragungen Liebermanns seinen Freund nicht selten ratlos zurücklassen. Auch Liebermanns Analysen, die Sherlock Holmes zur Ehre gereichen, sind bemerkenswert. „Holmes trifft Freud“ oder andersrum erscheint als Werbeslogan passend.

„Haussmann. Dem Fräulein ist ins Herz geschossen worden. Glauben sie wirklich, dass sie nach einer solchen Verletzung noch in der Lage gewesen wäre, eine Waffe zu verstecken und dann auf der Chaiselongue wieder Platz zu nehmen?“

Es geht neben der Medizin und Freuds Thesen um Übersinnliches und damit gibt es Ausflüge in die Welt der ägyptischen Gottheiten, wobei es im vorliegenden Fall vor allem um Seth geht. Die Rechte der Frauen werden am Beispiel von Lady Lydgate angerissen, denn in Wien Medizin studieren dürfen Frauen, Jura derweil noch nicht. Die Stadt der Handlung bildet eine stimmungsvolle Kulisse, ohne dass dabei der Eindruck entsteht, man habe einen Stadtplan oder Stadtführer in der Hand.   

„Die Liebermann-Papiere“ ist ein vielschichtiger Serienstart, der Vorfreude auf die folgenden Bände macht. Glücklicherweise blieb es nicht bei einer Trilogie.

  • Autor: Frank Tallis
  • Titel: Die Liebermann-Papiere
  • Originaltitel: Mortal Mischief. Aus dem Englischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt
  • Verlag: btb
  • Umfang: 512 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Juni 2006
  • ISBN: 978-3-442-73463-4
  • Produktseite

Wertung: 12/15 dpt

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