André Hülsbömer – Winterling (Buch)

Der Große Krieg und dass Bauernleben im 17. Jahrhundert

Spätherbst im oberhessischen Dauernheim. Ein kleines Dorf mit rund hundertfünfzig Bewohnern, die meisten leben von der Landwirtschaft. Einst waren es rund fünfhundert Menschen, dann kam der Große Krieg, von dem sich das Land bis heute nicht erholt hat. Alte, Frauen und Kinder gibt es reichlich, doch Männer im arbeitsfähigen Alter fehlen. So sorgt eine Beerdigung im Oktober für bange Gesichter, denn von den drei Verstorbenen waren zwei Männer. Auch diese werden im bevorstehenden Winter fehlen, ebenso wie genügend Lebensmittel für alle.

Bauer Johannis Edler, Jannis genannt, gerät mit dem Ortsvorsteher Dieffenbach aneinander als dieser trotz einer völlig missratenen Ernte eine Verdopplung der Abgaben fordert. Zudem solle jede Ortschaft zwei Soldaten nebst Pferden stellen. Zwei weitere arbeitsfähige Männer weniger. Eine Katastrophe bahnt sich an, gleichwohl, es ist ein Befehl „von oben“, genauer gesagt vom Amt Bingenheim, wo der Landgraf Wilhelm-Christoph seit Jahren vor einem großen Problem steht. Dieser heiratete einst die Tochter des Landgrafen Georg II. von Hessen-Darmstadt und dieser verlangte als Gegenleistung eine jährliche Abgabe von sechstausend Gulden; schon in normalen Zeiten nicht zu leisten. Mit der jetzt geforderten doppelten Abgabe, will sich jedoch vor allem der Ortsvorsteher selbst bereichern.

„Eine Stadt ist aus Regeln gemacht, ein Dorf aus Vertrauen.“

Die Stimmung im Volk kocht, auch im Haus des Bauern Jannis, dem es noch vergleichsweise gut geht. Vorausschauend hat er seinen Hof stetig entwickelt, neben der Landwirtschaft besorgt eine eigene Färberei zusätzliche Einnahmen. Sein Schwiegervater kann den aufbrausenden Jannis gerade noch einfangen, sich gegen die Obrigkeit zur Wehr zu setzen. Allerdings hat sein ältester Sohn Lorenz bereits eigene Pläne entwickelt. Als Landgraf Wilhelm-Christoph zu einer Jagd von bislang ungeahnten Ausmaßes einlädt und bei dieser zwei Bauern den Tod finden, da sie von adeligen Schützen getroffen werden, droht ein weiteres Drama.

Ein Roman, der mehr als Geschichtslesebuch wirkt

Zunächst sollte ein kleiner Warnhinweis erlaubt sein. Ja, „Winterling“ ist ein Roman und zudem ein lesenswerter. Dazu gleich mehr. „Winterling“ ist aber vor allem ein äußerst facettenreiches wie detailliertes Geschichtslesebuch, das einen mit seinem Detailwissen mitunter erschlägt. Jeder einzelne Aspekt ist durchaus interessant, aber darunter „leidet“ der Roman, will sagen, es geht nur langsam voran. So beschreibt allein das erste Drittel des Werkes die erwähnte Beerdigung, die Jannis dazu verleitet, darüber nachzudenken, wie es soweit kommen konnte. Die Zeit nach dem Großen Krieg (1618-1648) wird erinnert, ebenso der Lebensweg der eigenen Familie sowie der Machtverhältnisse zwischen Darmstadt und Bingenheim. Erst nach hundertachtzig Seiten kommt es zu dem Gespräch zwischen Jannis und Dieffenbach und den weiteren Ereignissen. Dies muss man wissen und mögen, dann ist allerdings alles bestens.

„Ich hatte gehofft, dass sie die normale Pacht herabsetzen, wo doch alle Ernten so viel schmaler ausgefallen sind. Wie es immer Sitte war, bei allem Gefeilsche: guter Ernten, starker Zehnter, schlechte Ernten, schwacher Zehnter. Stattdessen: Wie im Vorjahr und dasselbe noch mal!“

André Hülsbömer liefert mit „Winterling“ einen großartigen Einblick in das Leben der einfachen Bauern und Handwerker im 17. Jahrhundert beziehungsweise in der Folge des Dreißigjährigen Krieges. So detailtreu und „live“ erlebt man es höchst selten, wie die Menschen versuchen zu überleben. Die damit verbundenen Strapazen und Ängste sind heute kaum vorstellbar. Der Weinbau, die Färberei und viele andere anfallenden Arbeiten auf Jannis Hof werden „seitenlang“ vorgestellt, mitunter meint man, ein Sachbuch zu lesen. Dies ist keineswegs negativ gemeint, denn der Lerneffekt oder die Wissensbereicherung sind enorm, vorausgesetzt man kann es sich merken. Ebenfalls wichtige Themen sind die Hexenprozesse zwischen 1652 und 1660 sowie das Leben am Hof in Bingenheim und Darmstadt. Dort zeigt nicht nur die opulente Jagd, dass Adelige und Normalsterbliche in verschiedenen Welten leben. Hier ausschweifende Geldverschwendung für ein Leben im Luxus, dort bitterste Armut. Hunderte Tiere werden bei der Jagd erschossen, doch die meisten bleiben im Feld liegen, da man für sie keine Verwendung hat. Das Fleisch vergeht binnen weniger Stunden, während das einfache Volk bestenfalls am Sonntag Fleisch zu essen hat, wenngleich natürlich keine Rehe und Hirsche.

Zum Ausklang des Buches erfahren wir noch, wie der Westfälische Frieden zustande kam, was durchaus lehrreich für die Gegenwart ist. Zu den ohnehin ausführlichen Schilderungen gibt es im Anhang weitere rund fünfzehn Seiten mit Erläuterungen, gefolgt von einem achtundzwanzig Seiten langen Glossar unter dem Titel „Register fehlender Worte“. Eine Übersichtskarte über das Dorf Dauernheim gibt es zu Beginn des Romans, ein Personenregister fehlt indes leider.

Leute, die sich (allgemein) für Geschichte sowie die oben genannten Themen (viele weitere werden behandelt) oder das beschwerliche Leben der Bauern (hier im 17. Jahrhundert) interessieren, sollten zugreifen. 

  • Autor: André Hülsbömer
  • Titel: Winterling
  • Verlag: Gmeiner
  • Umfang: 480 Seiten
  • Einband: Hardcover
  • Erschienen: Februar 2025
  • ISBN: 978-3-8392-0833-5
  • Produktseite

Wertung: 12/15 dpt

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