Ralf Thiesen – Krähen über Königsberg (Buch)

“In Krähen über Königsberg” droht ein Waffendiebstahl in die nächste Katastrophe zu führen

Juli 1924. Aaron Singer ist zurück aus Berlin, wo sein Chef Ernst Gennat sich gezwungen sieht, Stellen zu streichen. So kommt dem jüdischen Kommissar die Rückkehr nach Königsberg gelegen, was auch an der attraktiven Nackttänzerin Ella liegen dürfte, mit der eine Liaison hat, die sich zu verfestigen scheint. Gleichberechtigt mit Heinrich Puschkat leitet er die Kripo und muss nun in einem besonders heiklen Fall von nationaler Tragweite ermitteln. In der Artilleriekaserne in Kalthof wurde ein Soldat ermordet und, fast noch schlimmer, eine große Anzahl an Karabinern und Maschinengewehren gestohlen. Generalleutnant Heye, höchster Militär in der Provinz Ostpreußen ist angespannt, denn in weniger als einem Monat gibt es einen großen Festakt anlässlich der Schalacht von Tannenberg, die sich zum zehnten Mal jährt. Selbst Hindenburg hat zugesagt, da kommt ein möglicher Skandal zur Unzeit und könnte womöglich Heye selbst die Stelle kosten.

Für mein Offizierskorps lege ich die Hand ins Feuer, Herr General.“ Dem war nichts hinzuzufügen.

Singer und Puschkat wird schnell klar, dass die Täter zwingend Helfer innerhalb der Kaserne haben mussten, denn sonst hätten sie das bewachte Gelände nicht betreten, geschweige die Waffen stehlen können. Die Ermittler stellen zudem fest, dass Hauptmann von Breskow sowie die Oberleutnants Maguniak und Freymann gemeinsam in der Eisernen Division dienten, die noch nach Kriegsende im Ausland aktiv war. Ein republikfeindliches Freikorps, so dass es verwundert, dass ausgerechnet diese Herren nun bei der durch den Versailler Vertrag auf hunderttausend Mann begrenzten Reichswehr arbeiten. Vor allem Freymann gerät in Verdacht, denn der Oberleutnant war zur Tatzeit vor Ort, hatte aber offiziell keinen Dienst. Wenig später wird Freymanns Frau tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Es sieht Nacht einem Selbstmord aus, aber das Ehepaar wollte noch am gleichen Tag in die Schweiz reisen. Im Fall des Oberleutnants eher fliehen, doch auch dieser wird kurz darauf auf einer belebten Promenade ermordet.

Erste Ermittlungsergebnisse legen einen furchtbaren Verdacht nahe. Das Memelgebiet gehört seit Januar des letzten Jahres zu Litauen. Ein gewagtes Unterfangen mit höchster Billigung der deutschen Seite, da man sich so vor einem Zugriff der Polen mit Unterstützung der Franzosen absichern wollte. Deutschnationale Gutsbesitzer und ehemalige Freikorpsoffiziere haben sich im memelländischen Heimatschutzbund zusammengeschlossen. Was, wenn die Waffen für die deutschnationalen Männer gedacht sind und diese einen Putsch gegen die litauischen Machthaber planen? Die Folgen wären völlig unvorhersehbar, denn Polen könnte die Gunst der Stunde zum Einmarsch nutzen. Singer reist in Begleitung von Ella, man tarnt sich als Ehepaar Landau, in das Seebad Rossitten auf der Kurischen Nehrung, wo eine Waffenübergabe geplant sein könnte. Auch zwei ehrgeizige Königsberger Reporter sind vor Ort. Dann überschlagen sich die Ereignisse.

Zweiter Fall für den jüdischen Kommissar Aaron Singer

Nach „Die Toten von Königsberg“ liegt mit „Krähen über Königsberg“ der zweite Aaron-Singer-Krimi von Ralf Thiesen vor, welcher zeitlich nur wenige Monate später spielt, denn die sogenannten Blutgericht-Morde ereigneten sich im März 1924. Seitdem haben der konservative Provinzbeamte Puschkat und der lebensfrohe Singer, man sieht es an seiner Beziehung zu Ella, die in einem Nachtclub auch mit anderen Herren verkehrt, haben sich aneinander gewöhnt. Man kennt die Eigenarten des anderen, wobei besonders Puschkat mit dem jüdischen Kommissar mitunter Probleme hat, was keineswegs dessen Religion geschuldet ist, sondern dem Umstand, dass dieser gerne seine eigenen Wege geht und dabei mitunter die Vorschriften außer Acht lässt. Im vorliegenden Fall verhindert er somit immerhin eine mittlere Katastrophe.

Er ist der Inbegriff eines ostelbischen Junkers. Den Gutsbesitzern sind zwar keine Nachteile durch die Angliederung an Litauen erwachsen, aber sie halten die Regierung in Kaunas für schwach, und sie bilden das Rückgrat des Heimatschutzbundes. Alle – Deutsche wie Litauer – eint die Angst vor einem polnischen Übergriff.

Der Krimiplot lebt nicht nur von der vermeintlichen Verschwörung, sondern vor allem der Frage, wer was gewusst hat? Sowohl bei der Reichswehr in Königsberg als auch beim Truppenamt in Berlin, welches ein Tarnname für den verbotenen Generalstab ist. Geschickt nutzt der Autor die eigentliche Geschichte dazu, weitere Verbrechen einfließen zu lassen. So gilt es nicht nur einen Waffenschmuggel in das Memelgebiet zu vereiteln, sondern zudem einen Mord aufzuklären sowie einen weiteren zu verhindern. In Rossitten treffen sich allerhand zwielichtige Gestalten, deren Rollen nicht von Beginn an klar sind. Zudem wirken einige historisch belegte Personen mit, allen voran – mit kurzem Gastauftritt – Gustav Stresemann, einer der bedeutendsten Politiker der Weimarer Republik. Deutlich mehr Platz erhalten Anna Freud, die Tochter von Sigmund Freud sowie die Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé.

Wie schon in „Die Toten von Königsberg“ lässt Ralf Thiesen sein geballtes Fachwissen über die gesellschaftlichen wie politischen Umstände der damaligen Zeit in die Handlung einfließen. Dass Litauen die Macht im Memelgebiet mit deutscher Unterstützung übernahm, war in der Weimarer Republik der Öffentlichkeit unbekannt. Erst Jahrzehnte später wurden die geheimen Absprachen publik. Der Dialekt einiger Einheimischer trägt zur hohen Authentizität der Geschichte bei, bei der anfangs die zahlreichen Namen etwas Verwirrung stiften könnten, zumal man ein Namensregister vergeblich sucht. Dies ist aber nur ein kleiner Kritikpunkt für ein facettenreiches und anspruchsvolles Leseereignis. Empfehlenswerte Serie.

  • Autor: Ralf Thiesen
  • Titel: Krähen über Königsberg
  • Verlag: Goldmann
  • Umfang: 528 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Dezember 2024
  • ISBN: 978-3-442-49257-2
  • Produktseite

Wertung: 13/15 dpt

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