Was lernen wir aus einer Zeit, in der ein Virus weltweit das Leben anhielt?
Kein Ereignis hat so gravierend unser Leben beeinflusst, wie die Corona Pandemie. Und das weltweit. Sie hat zu viele Leben genommen, zu viele Menschen krank gemacht und nachhaltig gesundheitlich geschädigt. “Alles überstanden?” fragen Christian Drosten, Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie, und Georg Mascolo, ehemaliger Chefredakteur des Magazins »Der Spiegel« und Leiter des Recherchenetzwerks von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. »Ein überfälliges Gespräch zu einer Pandemie, die nicht die letzte gewesen sein wird« lautet der Untertitel des 272 Seiten umfassenden Sachbuchs. Denn die Corona-Pandemie war mitnichten die erste weltweite Pandemie. Ziemlich genau 100 Jahre zuvor, 1918 bis 1920, verbreitete sich die Spanische Grippe massiv in Asien, Europa, USA, und schließlich bis nach West-Afrika. Jedoch kennen Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts diese nur aus Geschichtsbüchern oder alten Filmen. Die wenigsten von uns dürften eine weltweit grassierende Epidemie im 21. Jahrhundert für wahrscheinlich gehalten haben. So kann Mensch sich irren.
Der fachkundige Virologe Christian Drosten unterlag diesem Irrtum nicht, sondern rechnete tatsächlich mit einer Pandemie. Ob auch der renommierte Journalist Georg Mascolo mit dieser Pandemie rechnete, bleibt offen. In der Nachbetrachtung prescht er allerdings voran, denn »Alles überstanden?« ist nach »Ausbruch: Innenansichten einer Pandemie« bereits sein zweites Buch über die Corona-Pandemie. Mit seiner Ehefrau Katja Gloger schaute der Publizist in seinem ersten Buch auf die politischen Entscheidungen dieser extremen Zeit.
Ein kontroverses und konstruktives Gespräch
Christian Drosten und Georg Mascolo interviewen sich in »Alles überstanden?« gegenseitig. Beide resümieren aus der wissenschaftlichen und journalistischen Perspektive verschiedene Aspekte, wie zum Beispiel im Kapitel »Die Pandemie und die Politik« die ersten Maßnahmen am Anfang der Pandemie. Das Kapitel »Die Pandemie und die Wissenschaft« konzentriert sich auf erste Erkenntnisse und die vermeintlich unterschiedlichen Standpunkte unter Wissenschaftler:innen. Das Kapitel »Die Pandemie und die Medien« analysiert schließlich die Berichterstattung über Corona. Und das vorletzte Kapitel »Der Streit über die Herkunft des Coronavirus« prüft Verschwörungsmythen und präsentiert den Stand des Wissens zur Herkunft des Virus. »Wie verhindern wir die nächste Pandemie?« gibt einen Ausblick auf Pandemie Virus-Kandidaten. Und beschäftigt sich mit möglichen Strategien zur Vermeidung eines weltweiten Ausbruchs und einer schnellen Virus-Bekämpfung. Mit einer detaillierten Chronologie der Ereignisse schließt das Buch.
Was diese Gespräche so interessant, spannend und kurzweilig macht, sind nicht allein die Themenauswahl und ihr Inhalt. Sondern die Tatsache, dass Drosten und Mascolo durchaus kontrovers diskutieren und hin und wieder sogar ein wenig Situationskomik und Humor einfließen lassen.
Insider-Infos, Irrtümer und Einsichten
Christian Drosten erzählt, wie er bereits Anfang Januar 2020 zur Kollegin Zhengli Shi Kontakt aufnahm, einer SARS-Forscherin aus Wuhan in China. Diese antwortete ihm, dass der aktuelle Ausbruch einer Lungenkrankheit nicht so schlimm sei, wie die SARS-Epidemie 2002/2003 in Asien. Sie verwies jedoch auf wissenschaftliche Veröffentlichungen, die Drosten darin bestätigten, dass es sich um ein ähnliches Virus handelte. Die chinesische Wissenschaftlerin half Drosten auch bei der Validierung des in seinem Labor entwickelten Corona-Nachweistests auf PCR-Basis.
Drosten berichtet auch vom ersten Treffen mit Bundeskanzlerin Merkel. Hierfür bereitete er Berechnungen und Grafiken vor, um eine etwaige Ausbreitung der Infektionen zu demonstrieren. Zwar behielt Frau Merkel diese Unterlagen, brauchte sie jedoch nicht, um den Ernst der Lage zu verstehen. Als Physikern kennt sie sich mit exponentiellen Anstiegen aus und wusste die Konsequenzen richtig einzuschätzen.
Kontroversen und Kompromisse
Unterschiedliche Ansichten diskutieren Drosten und Mascolo zu dem Thema, wie relevant das Tragen von Masken zu Beginn der Pandemie war. Der Wissenschaftler hatte seinerzeit aufgrund von fehlender Evidenz diese Empfehlung anfangs nicht so stark unterstützt, wie der Journalist erwartet hatte. Mascolo weist darauf hin, dass allein der gesunde Menschenverstand ausreiche, um das Tragen von Masken bei der Ausbreitung einer Infektion anzuraten.
Noch offensichtlicher werden unterschiedliche Meinungen zwischen Drosten und Mascolo vor allem im Themenbereich der Berichterstattung und Kommunikation. Der Journalist kritisiert Gesundheitsminister Lauterbach dafür, dass er Impfungen als »nebenwirkungsfrei« bezeichnete. Was so pauschal ausgedrückt nicht stimmt. Drosten verstand diese Aussage eher im Sinne von »praktisch nebenwirkungsfrei« und nimmt an, dass der Gesundheitsminister hier mit »rheinischen« Tonfall formuliert habe. Macolos Retoure darauf, dass »rheinisch« auf keinem Beipackzettel steht, ist eine der lustigen Stellen im Buch. Auch an Böhmermanns Bezeichnung »Menschenfeindlichkeit« in einem Kommentar zu einer Diskussion in der Talkshow Lanz mit den Wissenschaftlern Streek und Kekulé stößt sich Mascolo. Drosten hingegen betont, dass hier vor allem die Gesprächsführung kritisiert wurde, die verantwortungslosem Halbwissen und Fehleinschätzungen unwidersprochen Raum gab. Christian Drosten wiederum war nicht gerade glücklich mit der Spiegel-Schlagzeile »Verehrt und verhasst« auf dem Cover der Ausgabe 23/2020 und beklagt journalistische Zuspitzung. Ein Punkt, zu dem sich Georg Mascolo nicht äußert mit dem Hinweis darauf, dass er zu der Zeit Chefredakteur des Magazins war.
Hilfreiche Kommunikation und Schlussfolgerungen
Einig sind sich Journalist und Wissenschaftler darüber, dass der NDR-Podcast »Coronavirus Update«, den Christian Drosten mit verschiedenen Journalistinnen des NDR aufnahm, ein wertvolles Medium war, um den Menschen die Corona-Pandemie zu erklären. Für mich persönlich gehörten diese Gespräche zum wichtigsten Hilfsmittel, um mit der Pandemie zu leben, wofür ich bis heute dankbar bin.
Mascolo und Drosten räumen in dem Buch mit skurrilen Verschwörungstheorien auf. Erstaunlich und erheiternd ist eine Passage, in der Drosten erzählt, wie er an einer Video-Konferenz mit international renommierten Wissenschaftler:innen teilnahm. Einige glaubten, mit dem Gen einer Furin-Spaltstelle in der Virus-DNA Hinweise für die Konstruktion des Corona-Virus im Labor gefunden zu haben. Die Hypothese, dass das Virus aus einem Labor in Wuhan/China stammt, lässt sich zwar nicht gänzlich widerlegen. Die Behörden in China räumten unmittelbar nach den ersten Ausbrüchen den Tiermarkt in Wuhan, der als ursprünglicher Verbreitungsort des Virus gilt. Alle Tiere wurden vernichtet und können nicht für DNA-Analysen genutzt werden. Dennoch legt Christian Drosten sehr anschaulich Hinweise dar, die überzeugend nahelegen, dass ein natürlich mutiertes Corona-Virus vom Tier auf den Menschen übertragen wurde.
Was bietet „Alles überstanden?“, was fehlt?
Ein 272 Seiten langes Buch kann natürlich nicht eine umfassende und intensive Aufarbeitung der Corona-Pandemie leisten. Es gibt allerdings wertvolle Anstöße für Fragen und Gedanken, die politisch und gesellschaftlich dringend aufgearbeitet werden sollten. Sehr ausführlich gehen Drosten und Mascolo darauf ein, warum arme und alte Menschen unter der Pandemie am heftigsten zu leiden hatten und mehr Unterstützung gebraucht hätten. Auch das Thema Schulschließungen wird sehr differenziert diskutiert. Zwar berichtet Drosten von inzwischen ausgewerteten Studien, die die Wirksamkeit der Schulschließungen belegen. Journalist und Wissenschaftler kritisieren jedoch übereinstimmend, dass strengere Restriktionen in der Wirtschaft vielleicht die Pandemie ebenso wirksam eingedämmt hätten. Und weniger Last auf den Schultern von Kindern bedeutet hätte.
Einige Themen, zu denen ich mir eine Stellungnahme gewünscht hätte, fehlen, zum Beispiel die Rolle der STIKO Kommission in Bezug auf die mehrfach kritisierte zu niedrige Impfquote. Das Thema »Post-and Long-Covid Syndrom« kommt leider nicht zur Sprache und auch die chaotische Infrastruktur der Testzentren und die Überforderung der Diagnostik-Labore in Deutschland werden nicht thematisiert.
Insgesamt vermittelt »Alles überstanden?« jedoch interessante Hintergründe in die wissenschaftliche Arbeit während und nach der Corona-Pandemie und in politische Diskussionen und Entwicklungen. Das Gespräch zwischen Georg Mascolo und Christian Drosten zeigt anschaulich, welche Entscheidungen und Maßnahmen gut und welche schlecht funktioniert haben, auch im internationalen Vergleich. Und welche Voraussetzungen in Deutschland und weltweit geschaffen werden müssen, um auf zukünftige Pandemien besser vorbereitet zu sein. Leider deckt sich über die Corona Jahre inzwischen der Schleier des Vergessens, andere Krisen stehen an der Spitze der politischen Agenda. Vielleicht kann »Alles überstanden?« dazu beitragen, dass wir als Gesellschaft sensibel für das Thema bleiben und die nötigen Schritte zur Vermeidung der nächsten Pandemie angegangen werden.
- Autoren: Christian Drosten, Georg Mascolo
- Titel: Alles überstanden? – Ein überfälliges Gespräch zu einer Pandemie, die nicht die letzte gewesen sein wird
- Verlag: Ullstein Verlag
- Erschienen: 06/2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 272
- ISBN: 978-3-550-20302-2
- Produktseite des Verlags
Wertung: 12/15 dpt