Piranesi lebt in einem Haus, das kaum in Worte zu fassen ist. In den unteren Etagen brandet das Meer durch überflutete Säle, in den oberen breitet sich der Himmel aus und dazwischen erstrecken sich Tausende und Abertausende Säle und Vestibüle. Bevölkert werden sie von unzähligen Statuen und von Piranesi, der, seit er sich entsinnen kann, die Säle durchstreift. Was hat es mit diesem Haus auf sich? Und wie gelangte Piranesi dorthin?
Piranesi ist der zweite Roman von Susanna Clarke, die mit „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ 2014 die Bestsellerlisten stürmen konnte.
Mit etwas weniger als 300 Seiten ist Piranesi nicht ganz so umfangreich wie das stolze 1056 Seiten umfassende „Jonathan Strange & Mr. Norrell“. Rätselhaft, fantasievoll und stilistisch herausragend ist das Buch jedoch allemal.
Das Haus ist die Welt von Piranesi, es ist Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es gibt keine Weltgeschichte, kein Leben außerhalb. Piranesi lebt allein in diesem riesigen Haus, fast, denn außer ihm ist da noch „Der Andere“.
Der titelgebende Ich-Erzähler, der sich selbst auf Anfang dreißig schätzt, und Der Andere sind nicht die ersten, die in diesem Haus leben. Es gibt dreizehn Skelette, die Piranesi sorgsam in einem der Säle drapiert hat. Ihre Existenzen sind ihm zwar Rätsel, dennoch legt Piranesi seine Aufmerksamkeit vor allem auf andere Dinge, zum Beispiel auf die Säle und Vögel, die einzigen Tiere, die in dieser Welt leben.
Der Leser selbst beginnt bald, sich andere Fragen zu stellen: Wieso kann Piranesi sein Alter ungefähr schätzen, wenn er sich nicht erinnern kann, wie er in dieses Haus kam, noch, seit wann er dort lebt? Woher weiß Piranesi, was ein Baum ist, wenn es so etwas in seiner Welt nicht gibt? Woher stammen seine Notizbücher? Wieso trägt Der Andere im Gegensatz zu ihm feine Anzüge und wohin verschwindet dieser stets?
All diesen Fragen wird Piranesi sich erst im Laufe des Buches widmen und seine Freundschaft zu Dem Anderen hinterfragen. Während dem Leser recht schnell bestimmte Verhaltensweisen Des Anderen merkwürdig vorkommen, sind Piranesi diese zunächst weder befremdlich noch wecken sie in ihm Argwohn.
Diese Gutgläubigkeit, man könnte beinahe sagen, blinde Naivität, ist das Nächste, was auffällt. Piranesi ist so genügsam, so bescheiden und so im Einklang mit seiner Umwelt, dass es einen fast beschämt. Man selbst wittert bereits schnell Hinterlist, es überkommt einen ein ungutes Gefühl, wenn Der Andere seine wahren Absichten erkennen lässt.
„schlichtere Gemüter dominieren und unserem Willem beugen“
Seite 19
Denn: Wen möchte Der Andere dominieren? Es ist doch außer ihnen beiden niemand da? Und warum möchte er so etwas tun? Ist er wirklich so gütig und freundlich?
Piranesi selbst scheint sich diese Fragen nicht zu stellen. Er kennt Missgunst und Argwohn nicht, in seiner Welt kommt so etwas nicht vor.
Was sagt das über seine und unsere Welt aus? Wie sieht es mit Wissenschaft, Kunst und Religion aus, welche Bedeutung haben sie und was können wir von ihnen lernen? Und wie genau lässt sich Wahn eigentlich definieren und wer gilt als wahnsinnig?
Es sind viele hochinteressante, philosophische Fragen, die Susanna Clarke aufwirft und die einen noch lange nach der letzten Seite beschäftigen.
Diese und der faszinierende Umstand, dass man, egal, wie oft das Buch schon gelesen wurde, jedes Mal neue Fragen, neue Hinweise entdeckt, die zum Nachdenken anregen, machen Piranesi zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis, welches selbst im Fantasygenre herausstechend ist.
Herausstechend ist auch der wunderschöne, poetische und außergewöhnliche Schreibstil (zum Beispiel wird „Der Andere“ tatsächlich so geschrieben).
Sei es die Beschreibung der Säle und Statuen, die Art, wie Piranesi die Zeit versteht,
Piranesi ist ein Fest für jeden Sprachliebhaber.
Auch wenn der Roman ein wenig kurz geraten ist und durchaus gerne noch 200 Seiten länger hätte sein können (allein, um das Ausmaß Der Welt erfassen zu können), so ist ein mehrmaliges Lesen eine angenehme Alternative. Es ist beinahe ein bisschen wie das beschriebene labyrinthartige Haus, in dem es immer wieder Neues zu entdecken gibt.
- Autor: Susanna Clarke
- Titel: Piranesi
- Übersetzer: Astrid Finke
- Verlag: Heyne Verlag
- Erschienen: 2022
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 272
- ISBN: 978-3-453-32198-4
- Sonstige Informationen:
- Produktseite
- Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 15/15 dpt
Cover: © Heyne Verlag
Das klingt toll! 🙂 setze ich mir direkt mal auf die Liste!
Dankeschön! Freut mich, dass ich dich inspirieren konnte 😊