Romanbiografie über eine mutige junge Lyrikerin
– Buchvorstellung und Autoren-Interview
Stefan Cordes hat einen Roman über einen Teenager geschrieben. Billie, ist eins von fünf Kindern des Bürgermeisters Christian Schwarz im Thüringischen Graz. Die junge Frau träumt davon Dichterin zu werden. Die Voraussetzungen dazu bringt sie mit. Billie ist gebildet und überdurchschnittlich begabt. Aber: Billie lebt im 17. Jahrhundert und ein selbstbestimmtes Leben ist weder für sie noch irgendein anderes Mädchen in dieser Zeit vorgesehen.
Inspiriert durch die Ausnahme-Dichterin Sybilla Schwarz hat Stefan Cordes einen sehr modernen Roman geschrieben, der das Leben dieser extrem talentierten Frau nacherzählt. Detailliert schildert er das Zusammenleben in der Familie, in deren Schutz Sybilla eine recht behütete Kindheit verbringt bis der Dreißigjährige Krieg ihre Heimat erreicht. Die wohlhabende Familie legt Wert auf die Bildung der Söhne und so liegt die Vermutung nahe, dass auch Sybilla vom Unterricht ihrer Brüder profitiert. Trotz dünner Faktenlage gelingt es Cordes ein lebendiges Bild zu entwerfen, das uns den Alltag der Protagonistin glaubhaft vor Augen führt. Dort, wo der Autor sich auf Vermutungen und Spekulationen stützen muss, ist er besonders behutsam vorgegangen. Nie gewinnt man den Eindruck, Cordes erfindet irgendetwas hinzu, nur um seine Story interessanter zu machen. Sogar dort, wo er Leerstellen mit Spekulationen füllen muss, orientiert er sich am bestmöglichen, d.h. er interpretiert die ihm vorliegenden Texte der Autorin und verlässt sich auf die große Empathie zu seiner jugendlichen Protagonistin.
Obwohl sein Roman die Leserschaft in die Mitte des 17. Jahrhunderts führt, fühlt sich der Text niemals so an. Billies Gedanken sind modern. Ihre Wünsche und Träume besitzen einen universellen Wert. Cordes verwendet eine Sprache, die völlig zeitlos daher kommt. Er vermeidet jede Nachahmung „altertümlicher“ Floskeln oder Redewendungen. Billie wird dadurch zu einer Figur, auf die sich auch aktuelle zentrale Themen wie Liebe, Gleichberechtigung, Selbstbstimmung, Recht auf Bildung, das ungerechte Verhältnis zwischen den Geschlechtern etc. mühelos projizieren lassen.
Dort wo Cordes auf das künstlerische Schaffen seiner realen Protagonistin eingeht, zitiert er ihre Verse und macht sie so seinen Leser:innen zugänglich. Die auf diesem Weg zum Leben erweckten Texte beeindrucken durch ihre gradlinige fast moderne Eleganz, die zeitlose Aktualität und den großen Mut als Frau öffentlich in Erscheinung zu treten. Denn letzteres war in dieser Epoche ausschließlich den Männern vorbehalten. Auf diesem Weg kritisiert Cordes auch den Umgang mit weiblicher Kunst, die durch patriarchale Strukturen über Jahrhunderte hinweg unsichtbar gehalten wurde und dadurch keinen Platz im allgemeinen Bewußtsein erlangen konnte.
Für zahlreiche Leser:innen dürfte der Roman von Cordes die erste Begegnung mit der thüringischen Dichterin sein, die im jungen Alter von nur 17 Jahren verstarb und deren Andenken zunächst verloren ging. Mit Billie erschafft Cordes das Porträt einer gewinnenden Persönlichkeit. Sie ist eine literarische Heldin, die man unbedingt ins Herz schließt.
+++ Interview mit Stefan Cordes
Booknerds: Lieber Stefan, der Blick hinter die Kulissen deines Buches ist besonders spannend, da wir es bei deiner Protagonistin mit einer realen Person zu tun haben, die im 17. Jahrhundert lebte. Danke, dass du dir die Zeit genommen hat, für booknerds einige Fragen zu deiner Arbeit am Roman zu beantworten. Zuerst einmal: Wie bist du Billie eigentlich begegnet? Über eine vergessene Barock-Lyrikerin stolpert man ja nicht alle Tage.
Stefan Cordes: So ein bisschen doch! Als vor einiger Zeit junge Dichterinnen wie Amanda Gorman, Rupi Kauer und andere vor allem im englischsprachigen Raum zu Stars wurden, bin ich eine Liste mit deutschen Lyrikerinnen durchgegangen, von der Gegenwart zurück. Die letzte war Sibylla Schwarz, und als ich ihr erstes Gedicht las, mit diesem jungen, rebellischen Sound und dem stolzen Trotz, dachte ich sofort: Hat ja auch echte Starqualitäten!
Booknerds: Was hat dich an Billie am meisten fasziniert?
Stefan Cordes: Dieses Mädchen wollte für sich das, was ihren Brüdern ganz selbstverständlich erlaubt war, studieren, einen Beruf ergreifen, in die Welt hinausziehen, sich frei in einen Menschen verlieben. Stattdessen musste sie sich mit ihren Schwestern zuhause um den Haushalt kümmern und darauf warten, verheiratet zu werden und Kinder zu bekommen. Sie hatte absolut keine Chancen, Konventionen zu verändern und trotzdem lässt sie sich nicht einschüchtern, folgt ihrer Sehnsucht und ihrer Liebe. Wie schön ist das doch und wie mutig!
Booknerds: Wie aufwendig war die Recherche zu Sybilla Schwarz? Die Faktenlage ist ja mehr als dünn.
Stefan Cordes: In den Kirchenbüchern finden wir von Sibylla Schwarz, ihrer Familie und den Menschen in ihrem Umfeld alle Daten von Geburt, Hochzeit, Kindern, Tod. Klingt erstmal nicht nach viel, aber wenn wir diese Daten nebeneinanderlegen, entsteht plötzlich ein erstaunliches Bild, das viel erzählt von den Dynamiken in dieser Familie. Dass Billies Mutter mit siebzehn Jahren schon einmal verheiratet worden war, was ihre große Schwester bei ihrer Hochzeit erleben musste, der Tod der Mutter, alles Ereignisse, die eine Familie prägen. Dazu kommt, dass in den Stadtarchiven die Ereignisse des Krieges gut dokumentiert sind, die sich ja auch durch die Einquartierungen unmittelbar auf die Menschen auswirken. Dann sind da natürlich ihre vielen Gedichte zu allen möglichen Themen und Ereignissen des Lebens. Und dann gibt es den Text der Predigt zu ihrer Beerdigung, der ziemlich interessant ist. Wenn wir diese Ebenen übereinanderlegen, ergibt das sehr viel mehr, als bloß ein paar Zahlen.
Booknerds: Wie lange hast du recherchiert?
Stefan Cordes: Bevor ich angefangen habe zu schreiben, habe ich natürlich viel gelesen über den Dreißigjährigen Krieg, die Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit, über Barockdichtung und Dichterinnen zu allen Zeiten. Aber auch während des Schreibens habe ich immer wieder recherchiert zu allem, was aufgetaucht ist: die Universitätsrektoren von Greifswald, Behandlungen von Seuchen, Hildegard von Bingen, all die historischen Figuren, die im Buch auftauchen, der Arzt Johannes Schöner, der aus Schottland stammte, der Schwedenkönig Gustav Adolf, der junge Pommernherzog Ernst Bogislaw von Croÿ, einer meiner Lieblingsfiguren. Die hat es ja alle gegeben.
Booknerds: Hattest Du den Eindruck, die Faktenlage war auch deshalb so dünn, weil Sybilla eine Frau war? Haben spätere Generationen oder vielleicht sogar bereits Zeitgenossen ihren Namen absichtlich unterschlagen?
Stefan Cordes: Das liegt vor allem daran, dass Sibylla Schwarz zu Lebzeiten keine Berühmtheit war, wie die männlichen Dichter ihrer Zeit, Opitz, Gryphius, Grimmelshausen. Mädchen wurden keine Dichterinnen, das durften nur gelehrte Männer, der Zugang zur Universität war den Mädchen verwehrt. Als Sibylla starb, tobte der Krieg noch immer, kein Gedicht war von ihr gedruckt worden, kein Ruhm, nichts, völlige Bedeutungslosigkeit. Also hat auch nie zu Lebzeiten jemand etwas über sie geschrieben. Erst viele Jahre nach ihrem Tod ist sie für kurze Zeit als “Pommersche Sappho” gefeiert worden, bis man sie wieder aus dem hauptsächlich männlich geprägten Dichterkanon herausgekegelt hat.
Booknerds: Wie hast du die Lücken gefüllt? Die richtige Balance zwischen belegten Informationen und behutsamen Spekulationen erfordert viel Fingerspitzengefühl.
Stefan Cordes: Die erzählerischen Lücken haben sich, ob auf psychologische oder magische Weise, ziemlich von allein gefüllt. Als ich alle Hintergründe und die gesamte Struktur des Buches zusammen hatte, hat sich die eigentliche Geschichte mit Billies Stimme fast wie von selbst geschrieben. Ich musste mich nur jeden Tag an den Schreibtisch setzen und aufschreiben, was sie zu erzählen hatte.
Booknerds: Beim Lückenfüllen hast du private Elemente „erfunden“, z.B. Billies Liebesbeziehung zu Judith. Wie viel Spekulation ist erlaubt, um bei einem biografischen Roman authentisch zu bleiben? Oder braucht es genau solche Spekulationen, um einer literarischen Figur Authentizität zu verleihen?
Stefan Cordes: Die Liebesbeziehung zu Judith ist ja gar keine Erfindung. Überall taucht Judith Tanck in ihren Gedichten auf, immer geht es dabei um Liebe, Sehnsucht, Missverständnisse, Angst vor Trennung und schließlich um bitteren Trennungsschmerz. Niemand sonst taucht in ihrem Werk auch nur annähernd bedeutsam auf, und man spürt beim Lesen sofort die besondere Beziehung der beiden, die ja damals gesellschaftlich mehr als problematisch und völlig aussichtslos gewesen ist. Es ist ziemlich mutig von Sibylla, dass sie in solcher Offenheit über die Liebe zu einer jungen Frau schreibt. Es gibt allerdings auch heute noch Literaturwissenschaftler, denen die Idee gar nicht gefällt, eine große deutsche Dichterin könne in der Liebe ihre eigenen Wege gegangen sein. Die erklären dann, Sibylla Schwarz habe bloß männliche Dichter nachgeahmt und deshalb schreibe sie über eine weibliche Angebetete. Völlig verdreht!
Booknerds: Was auffällt ist die zeitlose Sprache, die du Sybilla und ihren Zeitgenossen in den Mund legst. Das ist ungewöhnlich für einen historischen Roman, der sich auf das 17. Jahrhundert bezieht. Kannst du kurz erklären, wie Du darauf gekommen bist, die Leute in deinem Buch so und nicht anders sprechen zu lassen?
Stefan Cordes: Manchmal stellt man sich vor, in früheren Zeiten hätten sich die Menschen wahnsinnig gewählt ausgedrückt, weil wir ihre Sprache meist aus der Dichtung oder aus offiziellen Dokumenten kennen. Aber normale Menschen haben schon immer normal gesprochen, auch wenn sich Wörter, Formulierungen und der Sound mit jeder Generation verändern.
Ich habe BILLIE auch überhaupt nicht als historischen Roman schreiben wollen, sondern als Story über eine junge Frau, die darum kämpfen muss, tun zu dürfen, was ihren Brüdern völlig freisteht. BILLIE hätte auch in der Gegenwart spielen können, denn nicht überall werden Söhne und Töchter heute genau gleich erzogen und haben dieselben Möglichkeiten. Und die Sprache ist natürlich vor allem davon geprägt, dass wir die Geschichte als Ich-Erzählung erleben, und Billie die Welt ja nicht aus einer historischen Perspektive wahrnimmt. Für sie ist alles, was geschieht, unmittelbar erlebte Gegenwart.
Booknerds: Was können heutige Leser:innen aus den Texten von Sibylla Schwarz noch mitnehmen?
Stefan Cordes: Für Sibylla war es damals völlig aussichtslos eine Dichterin zu werden und mit einer Frau zusammen zu leben, außerdem hat sie in einer sehr düsteren Zeit gelebt, Krieg, Hunger und Seuchen haben in ihrer Heimat unvorstellbar gewütet. Wenn wir heute auch wieder solche Bedrohungen unserer Sicherheit und Freiheit spüren, finden wir bei einer jungen Dichterin wie Sibylla Schwarz vielleicht etwas, das uns hilft, mit den Unwägbarkeiten des Lebens umzugehen: Zuversicht, den Glauben an uns selbst, die Liebe zur Kunst, die Liebe sowieso.
- Autor: Stefan Cordes
- Titel: BILLIE »Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden«
- Verlag: C. Bertelsmann Verlag
- Erschienen: August 2024
- Einband: Art des Einbands
- Seiten: 384 Seiten
- ISBN: 978-3570105450
Wertung: 13/15 dpt