Sie war die Frau in Hitlers Badewanne. Sie war eine der ersten Kriegsberichterstatterinnen überhaupt. Sie war eine Frau mit vielen Karrieren, eine Persönlichkeit, die sich schon zu ihren Lebzeiten nicht in Schubladen stecken ließ. Schauspielerin Kate Winslet hat ihr gerade ein filmisches Denkmal gesetzt mit ihrer Hauptrolle in „Die Fotografin“. Sachbuchautoren wie Uwe Wittstock (Marseille 1939) oder Florian Illies (Liebe in Zeiten des Hasses) kamen bei ihrer Betrachtung über die Zeit rund um den Zweiten Weltkrieg nicht an ihr vorbei. Die Rede ist von der amerikanischen Fotografin Lee Miller.
Angesichts solch prominenten Ins-Rampenlicht-Rückens wird es Zeit dem vorliegenden Buch aus dem Verlag Edition Tiamat, das bereits seit 2020 dem deutschen Lese-Publikum zur Verfügung steht, etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Die Veröffentlichung enthält Originalberichte, Briefe und Fotos von Lee Miller. Die Fotografin begleitete die amerikanische Armee in den Jahren 1944 bis 45 bei ihrer Militäraktion von Frankreich bis Deutschland. Mit der Kamera bewaffnet bewegte sich Miller an vorderster Front, dokumentierte militärische Operationen und erlebte hautnah Zerstörung und Sterben auf beiden Seiten.
Auch wenn man es sich heute kaum noch vorstellen kann, Miller war als Reporterin für das weltberühmte Modemagazin Vogue akkreditiert. Dieses bot Millers Berichten eine regelmäßige Plattform für ihre Kriegsberichterstattung. Neben Artikeln und Fotos sind in diesem Buch auch einige Briefe Millers an ihre Chefredakteurin abgedruckt. Diese eröffnen den heutigen Leser:innen einen zusätzlichen Blick hinter die Kulissen, denn Miller spricht darin sehr offen über ihre Rolle als weibliche Berichterstatterin und den Hindernissen und Vorurteilen, denen ihr als solcher begegneten.
Mehr als alles andere möchte ich in der Lage sein, den Krieg in Europa bis zum Ende zu verfolgen. Und wichtiger noch – danach den Wiederaufbau Europas – oder wie man’s nennen will – zu beobachten.
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Die Ausführlichkeit, mit der Miller ihre Berichte ausstattete, verlangt einem heutigen Lesepublikum einiges an Geduld ab. Die Details, die für damalige Leser:innen informatives Nachrichtenmaterial darstellten, wird man heute eher mit historischem Interesse betrachten. Die große militärische Sachkenntnis Millers verdient dabei zweifelos Anerkennung. Als Quereinsteigerin hatte sie sich autodidaktisch umfangreiches Wissen angeeignet und sich dadurch auch den Respekt ihrer Zeitgenossen verdient.
Trotz aller Sachlichkeit in der Dokumentation, machte Miller aus ihrer Ablehnung den Deutschen gegenüber nie einen Hehl. Diese blieben für sie, auch noch nach dem Krieg, das große Feindbild. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie als Augenzeugin mit dem Leid deutscher Zivilisten konfrontiert wurde.
Ihre Beiträge, in ungeschönter, direkter, zur Sache kommender Prosa verfasst, dienen heute vorallem als lebendige Zeitzeugnisse, die von der entbehrungsreichen Mühsal und der Härte militärischen Lebens erzählen, aber auch ein Stimmungsbild spiegeln von der kriegsbetroffenen Zivilbevölkerung. Millers Fotos ergänzen die Textberichte und erlauben dem Betrachter – wie durch das Fenster einer Zeitmaschine – emotionale und nicht selten auch kurios empfundene Momente nachzuerleben. Diese Unmittelbarkeit macht ohne Frage den größten Reiz der Veröffentlichung aus.
Ein besonders wichtiges Kapitel bilden die Aufnahmen und Zeilen anlässlich des befreiten KZs Buchenwald ab. Miller war eine der ersten Berichterstattenden überhaupt vor Ort und betrat die Stätte des Grauens nur einen Tag nach der Befreiung.
Begleitet sind die zahlreichen Dokumente durch ein Vorwort von David E. Shermann, einem Kollegen Millers, der zeitgleich mit ihr die amerikanischen Truppen begleitete, und einer Nachbetrachtung des deutschen Herausgebers Klaus Bittermann, wodurch Millers Texte eine zeitliche und auch gesellschaftliche Einordnung erfahren.
- Autorin: Lee Miller
- Titel: Krieg. Reportagen und Fotos. Mit den Alliierten durch Europa 1944-1945
- Originaltitel: War: Photographer And Correspondent With the Allies in Europe 1944-45
- Übersetzer: Norbert Hofmann, Andreas Hahn
- Verlag: Edition Tiamat
- Erschienen: Februar 2020
- Einband: Broschiert
- Seiten: 334 Seiten
- ISBN: 978-3893201785
Wertung: 11/15 dpt