“Asphaltdschungel” ist ein Noir der temporeichen Extraklasse
August 2015. Schulferien. Ein letzter, gemeinsamer Urlaub soll die Ehe von Sylvie und Marc Mercier retten und damit zugleich die Familie für die zwölfjährige Tochter Marie. Doch die Fahrt gerät zu einem infernalen Dauerstreit und führt zu einer Raststätte. Dort nutzt Marie die Gelegenheit, ihren Eltern kurz zu entkommen, aber ihr Ziel ich nicht der angegebene Spielplatz. Stattdessen läuft sie über den Außenbereich, wo LKW-Fahrer ihre Rast einlegen. Danach bleibt sie für immer verschwunden
Pierre Castan lebt seit einem halben Jahr in seinem Auto auf der Autobahn, nachdem im Januar seine Tochter Lucie entführt wurde. Er ist zum Jäger geworden, innerlich schon genauso tot wie seine Frau Ingrid, aber beide hält noch ein Ziel am Leben. Pierre soll den Mörder seiner Tochter finden und Rache üben. Danach können sie beide Ruhe finden. So bietet der bereits dritte Fall von Kindesentführung eine neue Spur, der Pierre endlich folgen kann.
Die leitende Ermittlerin der Gendarmerie, Julie Martinez, weiß, dass bei Entführungen von Kindern die ersten Stunden entscheiden. Doch wie einen Mörder finden, wenn es weder verwertbare Videoaufzeichnungen der Raststätten noch Zeugenaussagen gibt?
Pascal lebt derweil in seiner eigenen Welt. Vor zehn Jahren hatte er einen schweren Unfall. Seitdem hat er keinen Geruchs- und Geschmacksinn mehr, arbeitet gleichwohl bei der Essensausgabe in einer Raststätte. Vom Unfall zeugt eine Narbe, die beiden Ohren verbindet. Sie wird von einem Tattoo in Form eines Reißverschlusses verziert und manchmal muss Pascal den Reißverschluss einfach öffnen, damit das Böse aus seinem Kopf drängen kann.
Abstoßend und faszinierend zugleich
Die Autobahnen und ihre Raststätten gehören zu den Lebensadern eines Landes. Gleichzeitig sind sie der Inbegriff der Anonymität. Wer achtet schon auf das Personal an der Essensausgabe. Wer auf die Prostituierten, die ihrem Beruf dort nachgehen? Viele bunte, schrille Figuren wirken in diesem Noir der Extraklasse mit. Sie alle sind irgendwie schicksalhaft verbunden. In ihrer mitunter existenziellen Verzweiflung, ihrer Suche nach Erlösung oder einem baldigen Ende von Allem.
Wie sich deren Wege kreuzen, Schicksale unaufhaltsam in Richtung Untergang taumeln ist ebenso beeindruckend wie verstörend. Daneben gibt es noch das Wettrennen der ungleichen Herausforderer: Pierre und Julie. Der Ausgang bleibt lange offen, denn eine wirkliche Spur gibt es zunächst nicht; Dank eines schmierigen Geschäftsführers und trotz Einsatzes einer vermeintlichen Hellseherin, die früher beinahe in der Kinderprostitution gelandet wäre.
Das Pascal der gesuchte Kindesentführer ist, ist schnell geklärt und es ist dem Autor zugute zu halten, dass er sich über die Details des weiteren Verbleibs der Kinder im Detail weitgehend ausschweigt. An anderen Stellen geht er nämlich sehr deutlich ins Detail und so soll und darf nicht verschwiegen werden, dass es kaum zwei Seiten in Folge ohne sexuelle Darstellungen oder zumindest Anspielungen gibt. Was immer Ihnen zu einvernehmlichen Sex oder sexuellem Missbrauch einfällt; das Meiste wird in diesem Roman vorkommen. Sprachlich oft brutal direkt und vulgär, aber wie soll man die mitunter unfassbar brutale Gewalt auch anders beschreiben?
Der Plot und damit einhergehend die Verstrickungen seiner Figuren untereinander sind ebenso außergewöhnlich wie unterhaltsam. Wen die sexuell-gewalttätige Komponente nicht abschreckt, findet hier einen besonders düsteren Noir.
2015 als bester französischer Kriminalroman mit dem Grand Prix de littérature policière ausgezeichnet.
- Autor: Joseph Incardona
- Titel: Asphaltdschungel
- Originaltitel: Derrière les panneaux, il y a des hommes.Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow
- Verlag: Lenos
- Umfang: 339 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: März 2019
- ISBN: 978-3-85787-494-9
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Wertung: 11/15 dpt