Aktuelles Porträt einer enttäuschten Generation von Domenico Müllensiefen
Auch in seinem zweiten Roman thematisiert Müllensiefen jüngste Geschichte und ihre Auswirkungen auf die Menschen in Ostdeutschland. Der Handlungsort ist das fiktive Jeetzenbeck in der Altmark. Hier, wo sogar die Bahn ihren Betrieb einstellt, ist das Leben schon lange aufs Abstellgleis geraten. Die einst hoffnungsfrohe Region, die Müllensiefen hier als Setting wählt, ist mehr als nur Kulisse. Mit jeder einzelnen Beschreibung liefert der Autor schmerzhafte Belege für das Versagen einer Politik, der es nicht gelingt, ihrer Verantwortung den Menschen in allen Teilen des Landes gerecht zu werden.
Greifbar macht Müllensiefen den allgemeinen Missstand am Beispiel seines Protagonisten Marcel und dessen direktem Umfeld. Marcel ist quasi das Paradebeispiel einer sogenannten abgehängten Existenz. Mit seinem Job als Drehspießverkäufer in einem verranzten Schnellimbiss und den wenigen Euro, die er fürs Austragen von Werbezetteln bekommt, hält er sich so eben über Wasser. Am Wochenende geht’s mit Kumpel Pascal zum Fußball ins nahegelegene Magdeburg. Man besäuft sich, schläft den Rausch aus und macht irgendwie weiter. Mehr ist nicht drin. Große Träume hat Marcel längst nicht mehr, dafür aber jede Menge Altlasten aus der Kindheit.
Müllensiefen wechselt beim Erzählen zwischen zwei Zeitebenen. Er begleitet seinen Protagonisten Marcel in der Gegenwart des Jahres 2023 und zwanzig Jahre zuvor. Der Autor zeichnet den Optimismus nach der Wiedervereinigung nach, der der Region einen kurzen und trügerischen Aufschwung bescherte. Marcels Familie gelingt es nicht, sich den neuen Anforderungen anzupassen. Der Vater, ein Kleinkrimineller, manövriert die Familie endgültig ins soziale Abseits. Marcels geliebte jüngere Schwester begeht Selbstmord. Ihre Todesfahrt gegen die Friedhofsmauer steht sinnbildlich für das vergebliche Bemühen voranzukommen.
Der Autor vermischt persönliches Schicksal mit der großen Geschichte, klare Schuldzuweisungen erteilt er nicht, aber Kritik an dem, was fehlt, wird trotzdem sichtbar: Strukturelle Benachteiligung, kapitalistische Ausbeutung, aber auch DDR-eigene Hypotheken legt er offen. Mit Dirk, einem langjährigen und sehr einflussreichen Freund von Marcels Familie, verleiht er dem hässlichen Ost-Nazi ein authentisches Gesicht und eine glaubhafte Biografie.
Nun könnte das alles zu einer schrecklich deprimierenden Lektüre geraten. Doch genau hier liegt Müllensiefens großes Talent. Trotz aller Missstände, mit denen seine Figuren nahezu aussichtslos kämpfen, lebt der Roman von seiner Titelfigur Marcel, mit dem ein symathischer Antiheld ins Rennen geschickt wird. Von außen betrachtet mag Marcel ein echter Loser sein, aber in Wahrheit repräsentiert er eine beispiellose Resilienz. Obwohl alle Umstände gegen ihn sprechen, hat er sich nie aufgegeben. Er ist ein liebevoller Sohn und Bruder und auch seine Zuneigung zu Steffi, seiner großen Jugendliebe, die nach zwanzig Jahren unerwartet wieder auftaucht, ist ungebrochen. Marcel ist sich selbst und seinen Werten treu geblieben und bereit Verantwortung zu übernehmen.
Ein wenig überzogen wirkt stellenweise der male gaze der Erzählstimme. Müllensiefen bedient sich bei seiner Inszenierung ausgiebig an Klischees tougher und toxischer Männlichkeit. Zugleich erzeugt er dabei jedoch auch Momente rührender Emotionalität und Verletztlichkeit, sobald diese Fassaden als solche erkennbar werden.
Einzelne Kapitel ragen besonders hervor. So zum Beispiel Müllensiefens Beschreibung eines typischen Fußballnachmittags, an dem Marcel mit Pascal ins Stadion des FC Magdeburg geht. Der Fußball wird hier zum gesellschaftlichen Spiegel, der Mentalität und Geschichte hervorragend abbildet. Auch die letzte Zugfahrt Marcels mit seiner Mutter in der zum Stillstand verurteilten Regionalstrecke von Jeetzenberg nach Magdeburg könnte als Erzählung für sich allein stehen. Sie ist melancholischer Abgesang und zugleich eine zärtliche Liebeserklärung an eine zum wirtschaftlichen Niedergang verurteilte Region.
Einiges im Roman erscheint widersprüchlich. Marcel hasst und liebt seine Heimat gleichermaßen. Mal betont er selbst wie häßlich er alles im Osten findet, mal reagiert er wütend sobald „der Westen“ genau diese Häßlichkeit des Ostens betont. Müllensiefen lässt diesen Widerspruch stehen, der den Kampf um die Deutungshoheit ostdeutscher Geschichte und ostdeutscher Identität sehr genau wiedergibt.
Dank der lebhaften Dialoge, der authentischen Charaktere und des klug abgerundeten Plots ist der Roman trotz des ernsten und sehr komplexen Themas in jedem Kapitel eine unterhaltsame und leicht zu konsumierende Lektüre.
- Autor: Domenico Müllensiefen
- Titel: Schnall dich an, es geht los
- Verlag: Kanon Verlag
- Erschienen: August 2024
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 352 Seiten
- ISBN: 978-3985681266
Wertung: 13/15 dpt