Arezu Weitholz – Hotel Paraíso (Buch)


Frieda hat keine Stimme mehr. Plötzlich verschwunden wie Sandkörner, die von einer Welle mitgerissen werden. Dabei ist die Stimme das wichtigste Instrument, das sie für ihre Arbeit benötigt, obwohl sie ihre Arbeit schon lange als sinnlos empfindet. Also macht sie eine Pause. Eine Pause als Synchronsprecherin, vom Alltag, aber auch irgendwie von Jonas, ihrem Freund. Allein reist sie nach Portugal, um dort das Hotel Paraíso zu sitten, welches über die Weihnachtszeit verwaist ist. Einziger Begleiter ist ein Hund namens Otto, der Hausmeister und jemand, der ihr Früchte auf einem Teller hinterlässt. Die Tage liegen leer vor ihr. Bis sie begreift, das Leere sich auch anders füllen lässt als zu Hause. Mit Erinnerungen zum Beispiel.

Hotel Paraíso ist ein Text, der seine Leser*innen seicht wie eine Brise anzieht, einsaugt und dann nicht mehr loslässt. Was anfangs noch still dahingleitet, entfaltet sich von Satz zu Satz zu einem Werk grandioser Sprache. Denn dieses Buch besteht aus zwei großen Komponenten: Sprache und Inhalt.

Arezu Weitholz besticht durch ihre treffsichere Verwendung von Methapern, die so gewaltig eingesetzt werden, dass sie ein Bild besonderer Ästhetik erzeugen.

Es hat Flausen geregnet gestern Nacht. Die Scheiben sehen aus, als hätte sie jemand mit einem sehr fusseligen Tuch gewischt, überall kleben hauchfeine Fäden auf dem feuchten Glas. Die Welt draußen ist milchig. Die Büsche zittern im Wind. Die drei Palmenköpfe gucken dumm. Stumm wirft sich das schiefergraue Meer ans Land. Regungslos hockt die Plastikeule auf dem First. In aller Seelenruhe erstreckt sich der etwas zerzauste Garten vor dem Balkon.

Immer wieder zehrt die Geschichte von solchen Bildern. Es ist unmöglich, als Leser*in orientierungslos umherzuirren.

Früher hatte ich mir noch merken können, was ein Buch in mir hinterlassen hatte, doch inzwischen war da nur noch Löschpapier. Es ging auch nicht anders, mein Kopf wäre geplatzt bei diesem Tempo. Die Figuren setzten sich noch nicht mal hin, auf ihrem Weg vom einen Ohr hinein und zum anderen wieder raus.

Über die Beschreibung einer Umgebung hinaus gelingt es Weitholz zudem, genau diese Sprache zur Fokussierung des Problems der Protagonistin zu verwenden. Die Schriftstellerin zeigt: Es braucht nicht viele Worte, um ein Thema anzusprechen. Es braucht nur die richtigen.

Und worum geht´s? Frieda bleibt eines Tages beim Arbeiten die Stimme weg. Vorschnell ließe sich Burn-out diagnostizieren. Um zu heilen, nimmt sie das Angebot an, ein verlassenes Hotel in Portugal zu hüten. Es handelt sich dabei um ein Hotel der gehobenen Klasse, welches über Wochen geschlossen ist. Ihre einzige Aufgabe ist es, sich um Hotelhund Otto zu kümmern, immer mal in einem anderen Zimmer das Licht einzuschalten und zu lüften. Die Tage ziehen sich dahin. Sie geht einkaufen, spazieren, kocht und schaut aufs Meer hinaus. Sie vermisst Jonas. Sie erinnert. Vor allem an die Tankstelle, die einst ihr Zuhause war. Und mit den Erinnerungen setzt eine Biografie einer Frau ein, die sich stets anders gefühlt hat als andere. Die anders aussah als ihre Eltern. Die eine Familie hatte, in der Kittel, Einkochen, Zündkerzen und die Bild am Sonntag zum Alltag gehörten.

Als Kind spielte ich dort mit Phasenprüfern, Lüsterklemmen, Kabeln und Blechautos. Ich machte Tankdienst, das hieß, ich bewachte im Tankbüro die silberne Kladde, in der die Dorfbewohner anschrieben.

Ein Gefühl von Zuhause wird vermittelt. Die Kindheit, die Weitholz beschreibt, ist eine auf ihre Art glückliche. Als Kind eines Tankstelleninhabers verbringt Frieda ihre Freizeit alternativ zu den Tätigkeiten, die andere Kinder ausübten. Andererseits gehörte sie nie ganz dazu. Auf Geburtstage wurde sie nur auf Bittstellen ihres Vaters eingeladen.

Erst spät begreift Frieda, warum sie anders ist als alle anderen. Oder warum sie zu etwas anderem gemacht wird. Da ist es fast schon zu spät. Heute, als erwachsene Frau, sehnt sie sich zurück nach den Tagen, die nach Motoröl und Eingemachtem gerochen haben.

Die Autorin beschreibt hier die Chronik eines Erkennens und eines dörflichen Umgangs mit Verschiedenheit. Es ist das Deutschland der Siebziger. Trotz aller Bewegungen bleiben die Dörfer verschont von Revolution und Freiheit und Aufbruch. Heterogenität besteht höchstens im Fernsehen. Im eigenen Ort sind alle gleich, so wie die Kittel, die die Frauen tragen. Als jemand, die sich anders empfindet, hinterlässt dieser Umgang fast schon ein Trauma, mindestens eine Narbe, die sich durch den Geist zieht wie ein Kreidestrich auf einer Straße. Da ist etwas. Es stört nicht wirklich, aber trotzdem störts. Bis heute.

Sie war so appetitlich, so zierlich, so präsentabel. Ich fühlte mich wie abgelaufener Joghurt.

Fazit

Auf gerade mal 169 Seiten erstreckt sich die Geschichte von Frieda. 169 Seiten, die mit jedem Wort genossen werden sollten. Arezu Weitholz verfügt über die Begabung, in außergewöhnlichen Bildern zu sprechen. Diese Begabung ist ein Geschenk, vor allem für die Leser*innen, die dank der Autorin in eine Welt melancholischer Ästhetik abtauchen können.

Heimweh ist eine Schlucht, in die man nicht zu sehen wagt, weil der Schmerz dann keinen Boden hat.

Leise ist die Geschichte, laut sollte ihre Veröffentlichung verkündet werden. Absolute Leseempfehlung!

  • Autorin: Arezu Weitholz
  • Titel: Hotel Paraíso
  • Verlag: mareverlag
  • Umfang: 176 Seiten
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Erschienen: 02. August 2023
  • ISBN: 978-3-86648-744-4
  • Produktseite

Wertung: 15/15 dpt

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