Es gibt Schriftsteller, die mit ihrem Werk ihr Leben überschrieben haben, wie Kafka oder Arno Schmidt. Und es gibt Schriftsteller, die mit ihrem Leben ihr Werk überschrieben haben, wie Ernst Toller, jüdischer Kaufmannssohn aus Posen, Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg, Berufsrevolutionär, Häftling, Erfolgsdramatiker und antifaschistischer Aktivist. Es ist also nicht verwunderlich, dass gerade die politische Autobiografie des Regierungschefs der ersten Münchener Räterepublik als Band 469 in der Anderen Bibliothek neu herausgegeben wird, die die meisten jener Rollen seines theateresken Lebens mit seltener Gedankenschärfe und Stilsicherheit beschreibt. Die literarischen Qualitäten indes, die Tollers Text einen Platz unter den lesenswertesten Autobiografien deutschsprachiger Schriftsteller im zwanzigsten Jahrhundert sichern, werden in Ernst Pipers langem Nachwort „Ein deutscher Patriot in finsteren Zeiten“ nur mit einem Wort („eindrucksvoll“) erwähnt. Als wäre nicht der „große Humanist“ wegen seines Schreibens, sondern dieses umgekehrt wegen der aufrechten Moral des Schreibers bislang unvergessen. In montageartig knappen, umso vielsagenderen Episoden schildert der 1893 Geborene zunächst seine Kindheit in Samotschin, wo er von der polnischen Minderheit als Deutscher und von den Deutschen als Jude geschmäht wird. Gegen die Dummheit und Grausamkeit seiner Umgebung stellt er die Literatur, Strindberg, Ibsen und Hauptmann, den sein Schulrektor einen „übermodernen, demokratischen Flachkopf“ nennt, liest er heimlich. Bis zum Krieg – ja: in den Krieg – treibt ihn ein kulturelitärer Patriotismus:
Ich bin Student in Grenoble. […] Ich gehe lieber in den Verein deutscher Studenten. Wir sprechen über Nietzsche und Kant, wir sitzen steif auf unseren Stühlen, wir trinken mit gewinkelten Armen und gewölbter Brust große Gläser dünnen Biers, um uns ‚zu Hause zu fühlen‘, wir schimpfen auf den französischen Schmutz, wir dünken uns Pioniere einer höheren Kultur und beschließen den Abend, indem wir die Fenster öffnen und ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ singen.
Als Toller nach der deutschen Kriegserklärung in die Heimat zurückkehrt, wird er als Freiwilliger erst abgewiesen, so groß ist der Andrang in den Kasernen. Hartnäckig erwirkt er schließlich seinen Fronteinsatz. Immer wieder erinnert (oder erfindet?) er Dialoge, die das Profil der Zeit blitzlichtartig erhellen:
– Weg möcht ich, Herr Major.
– Wohin?
– Am liebsten zur Infanterie.
– Warum zur Infanterie? Was haben Sie gegen die Artillerie?
– Wir schießen und wissen nicht, auf wen. Die drüben schießen, wir wissen nicht wer. Ich will den Feind sehen, gegen den ich kämpfe.
– Sie schreiben Gedichte? sagt der Major.
– Zu Befehl, Herr Major.
– Wohl moderne? Als Dichter Kampf der Romantik, als Soldat wünschen Sie sich einen kleinen romantischen Krieg.
Nach dreizehn Monaten an der Front ist Toller physisch und psychisch zermürbt. 1917 als kriegsuntauglich entlassen, studiert er in München und Heidelberg. Er zeigt Thomas Mann seine Gedichte (der ihm einen langen Brief dazu schreibt), freundet sich mit dessen Sohn Klaus an und bewundert Max Weber, den er im privaten Kreis Kaiser Wilhelm II. einen „dilettierenden Fatzken“ nennen hört. Als Toller, der sich als Sozialist zu verstehen beginnt, nachdem er Gustav Landauers „Aufruf zum Sozialismus“ gelesen hat, einen pazifistischen Jugendbund gründet und dieser verboten wird, beginnt seine politische Lebensjagd – bald vor allem als Gejagter – die ihn durch aufreibende Fluchten und Konflikte, an die Spitze der Räterepublik, in mehrere Gefängnisse und durch Dutzende Städte und Länder hetzen wird.
Seine Erörterungen innerrevolutionärer Zwiste, die allzu kleinteilig und pro domo geraten, sind die einzige strukturelle Schwäche des Buches. Bei der Lektüre dieser fast fünfzig Seiten, die um Tollers Zeit als Zentralratsvorsitzender der bayerischen Revolutionsregierung kreisen, vergisst man leicht, dass diese sich nur genau eine Woche hielt, bevor sie von den eigentlich verbündeten Kommunisten gestürzt wurde, deren Regierung immerhin zwei Wochen bestand. Als militärischer Laie gelang dem Abschnittskommandanten Toller zwar ein Sieg über Regierungstruppen bei Dachau, nach der Belagerung Münchens endete jedoch die bayerische Revolution. Toller flieht, wird entdeckt und verhaftet. Dank vieler Fürsprecher, darunter Thomas Mann und Max Weber, wird er wider alle Wahrscheinlichkeit nicht zum Tode verurteilt, aber zu fünf Jahren Festungshaft. Hinter Gittern gehen die Streitigkeiten der Revolutionäre weiter:
Beim gemeinsamen Essen entbrennen politische Diskussionen von fanatischer Besessenheit, nur ein Thema kennen alle, die Räterepublik, nur eine Hoffnung, die Weltrevolution. […] Der Hass ist umso größer, je mehr Gemeinsames sie haben, eine kommunistische Gruppe verbietet ihren Mitgliedern, mit Angehörigen einer anderen kommunistischen Gruppe zu sprechen.
Toller und seine Mitrevolutionäre erleiden harte Haftbedingungen, Willkür und politische Justiz, gegen die er Jahre später journalistisch zu Felde ziehen wird. Allerdings schreibt er in dieser Zeit auch seine ersten Theaterstücke, die ihn noch in der Haft bekannt machen und seinen Weltruhm als Dramatiker begründen. Laut Pipers Nachwort war er in den dreißiger Jahren „der am meisten gefeierte deutsche Exilschriftsteller. […] Allenfalls Thomas Mann hatte eine vergleichbare Bedeutung.“
„Eine Jugend in Deutschland“ vollzieht die großen Euphorien eines Dichters der Moderne und, weniger wortreich, deren Entzauberungen nach: Tollers idealistischer Nationalismus und dessen Widerlegung an der Front, seine sozialistische Sendung und deren Scheitern, schließlich sein rast- und wirkungsloser Aktivismus gegen Hitler. Toller schont nicht seine abgestreiften Identitäten – Illusionen im Rückblick, an deren Stelle neue Ziele, nicht minder wichtige, treten, die sein rhetorisches Schwungrad bewegen. Nur über seine letzte Enttäuschung hat der Exilant nicht mehr geschrieben. Im Mai 1939 trat er zum letzten Mal auf dem PEN-Kongress in New York öffentlich auf. Zwei Wochen später erhängte sich Ernst Toller, der jahrelang an Depressionen litt, in seinem Badezimmer.
Sein Ruhm hat zweifellos abgenommen. Die Theaterstücke, die teils dem Expressionismus, teil der Neuen Sachlichkeit angehören, seine Gedichte, Reden und Reportagen sind als Gesamtausgabe im Wallstein-Verlag weiterhin erhältlich und beweisen Tollers Sprachvermögen und skrupellosen Scharfsinn. Seine Autobiografie „Eine Jugend in Deutschland“ aber, die historisch erhellend und anekdotenreich sowie sprachlich virtuos ist und deren teils skurrile, teils erschütternde Episoden man allen klugen Menschen vorlesen möchte, die einem begegnen, ist vermutlich sein bester Text. In diesem mit Zusatzmaterial und Bildteil großzügig ausgestatteten Band der Anderen Bibliothek wird er hoffentlich weitere Generationen von Lesern finden, die sich in den Idealismen des Autors oder in seinen Enttäuschungen wiedererkennen. Denn dass die Geschichte aufhört oder plötzlich von etwas ganz anderem handelt wie eine Traumsequenz in seinen Dramen – das, lehrt uns Toller ungewollt, ist nicht zu erwarten.
Cover © Aufbau Verlage
- Autor: Ernst Toller
- Titel: Eine Jugend in Deutschland
- Teil/Band der Reihe: Die Andere Bibliothek (Band Nr. 469)
- Verlag: Aufbau Verlage
- Erschienen: 01/2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 348
- ISBN: 978-3-8477-0478-2
- Sonstige Informationen:
- Produktseite
- Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 13/15 dpt