„Weltalltage“ nennt die Protagonistin im gleichnamigen Roman von Paula Fürstenberg diejenigen Tage, an denen sie durch ihre chronische Erkrankung außer Gefecht gesetzt ist. Durch ihre Endometriose erleidet sie immer wieder Phasen mit extremen Schmerzen, die sie daran hindern ihrer Arbeit oder anderen Alltagsdingen nachzugehen. Die Freundschaft mit Max, den sie seit Kindertagen kennt und der ihr Mitbewohner ist, sorgt im Leben der Erzählerin für Halt und Ausgleich. Auf ihren besten Freund kann sie sich immer verlassen. Als er selbst erkrankt und schließlich sogar in eine Klinik muss, gerät das Alltagsgebäude der Protagonistin jedoch ins Wanken. Nun sind die Rollen erstmals vertauscht. Max braucht ihre Hife und ihr Verständnis.
Die Erzählerin nimmt die unerwartete Ausnahmesituation zum Anlass die gemeinsame Freundschaftsgeschichte zu erzählen. Es entsteht dabei so etwas wie eine doppelte Biografie, denn sie zeichnet ihre beiden Leben auf: die Kindheit in der DDR, das Familienleben mit den alleinerziehenden Müttern, die soziale Benachteiligung, das Studium in einer westdeutschen Stadt nach der Wende, das Erwachsenwerden, die Suche nach dem Platz im Leben, der Umgang mit Krankheit, Verlust und Tod.
Der Roman ist ebenso lebensnah wie lebensecht, denn wie im echten Leben spielt alles eine Rolle. Die äußeren Umstände ebenso wie die ganz persönlichen Erfahrungen. Was immer den Romanfiguren widerfährt, egal ob es individuell ist oder historisch bedeutsam, es wird für sie zur persönlichen Angelegenheit.
So war das damals, es gab nur individuelle Eigenschaften und keine Strukturen, jedenfalls für die, denen die Strukturen nichts anhaben konnten, also für alle außer dir.
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Die Autorin entwirft ein komplexes Mosaik aus Themen, die alle organisch ineinandergreifen. Nichts davon ist zu viel, zu banal, zu nebensächlich. Alles, was ihre beiden Protagonist:innen bewegt, ist wichtig. Die persönliche Geschichte ist ebenso wichtig wie die Erwähnung großer gesellschaftlicher Themen. Weil die einen oft ein Beleg für die anderen sind. Weil sich das Große im Kleinen spiegelt.
Paula Fürstenberg bleibt beim Erzählen immer ganz nah dran an ihrer Erzählerin, die ebenfalls Schriftstellerin ist. Selbstkritisch reflektierend, aber auch mit Humor, nimmt sie das Thema Krankheit ins Visier. Sie betrachtet „Krankheit“ sowohl von der persönlichen Warte aus als auch als ein gesellschaftliches Phänomen. Was macht eine schwere Erkrankung mit dem eigenen Leben? Wie reagieren die Mitmenschen? Welche Stigmata müssen Kranke oft erdulden? Was braucht ein erkrankter Mensch von Freunden, von Familienmitgliedern, aber auch von der Gesellschaft? Die Protagonistin nimmt im Laufe des Romans verschiedene Perspektiven ein, sowohl die der Kranken durch ihre eigene Geschichte, als auch die der Angehörigen durch ihre Beziehung zu Max, der an Depressionen leidet.
Fürstenberg ist ein wunderbarer Roman gelungen, der die Freundschaft feiert. Trotz der Schwere der gewählten Themen transportiert ihr Buch enorm viel Optimismus. Denn der Erzählerin gelingt es nicht nur die Herausforderungen ihres eigenen Lebens anzunehmen, sie emanzipert sich auch erfolgreich von eigenen Vorurteilen und festgefahrenen Verhaltensmustern.
In diesem Kontext betrachtet sie auch die Beziehung zu ihrer Mutter und justiert den Blick auf deren Biografie neu. Sie dokumentiert das eigene Erwachsenwerden und beginnt der Mutter, eine Rolle auf Augenhöhe zuzugestehen. Gerade durch diese zwei-Generationen-Geschichte reflektiert Fürstenberg sehr anschaulich und lebensnah DDR-Vergangenheit.
Erfrischend anders – und darum unbedingt eine Bemerkung wert – ist die Form, in der Fürstenberg ihren Roman präsentiert. Der Roman wird aus der Perfektive einer zweiten Person Singular erzählt. So spricht sich die Erzählstimme sich selbst mit „du“ an. Es entsteht ein innerer Dialog mit sich selbst, der viel Raum für Selbstreflexion bietet, zugleich aber auch die Lesenden direkt adressiert und ganz dicht an die Erzählerin heranzieht. Wie Tagebucheinträge kommen zahlreiche Passagen daher. Fürstenberg experimentiert mit wechselnden Gliederungsstrukturen, die sie aber nie ganz konsequent durchzieht. Es entsteht der Eindruck, der Autorin beim Aufschreiben ihrer Gedanken direkt über die Schulter zu schauen.
Dass Fürstenberg den Roman komplett gegendert hat, könnte ebenfalls eine besondere Erwähnung wert sein. Besonders ist dabei jedoch vor allem, dass dies nach nur wenigen Seiten kaum noch auffällt.
Fürstenberg kleidet ihre dicht komponierte Geschichte um Freundschaft, Familie, DDR und Wendezeit in wunderbar leicht klingende Sätze. Die experimentelle Form des Textes wirkt verspielt ohne je den Fokus zu verlieren. So hilft Fürstenberg ihren Leser:innen über die Hürde hinweg, die das Gewicht der zahlreichen Themen aufbauen könnte. Man kann am Ende der Lektüre nur staunen, wie mühelos man der Autorin durch ein derart komplexes Themenfeld hat folgen können.
- Autorin: Paula Fürstenberg
- Titel: Weltalltage
- Verlag: Kiepenheuer&Witsch
- Erschienen: Februar 2024
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 320 Seiten
- ISBN: 978-3462003369
Wertung: 14/15 dpt