Wenn man beginnt diesen Roman zu lesen, braucht man eine Weile, um zu begreifen, welche Art von Fiktion der Autor überhaupt inszeniert. Riikonen führt seine Leserschaft in eine naturnahe, völlig abgelegene Umgebung mitten in den Wäldern, fern ab von jeder modernen Zivilisation. Dort lebt eine archaisch organisierte Gesellschaft, deren Hierarchie Anleihen an die Antike nimmt. Schnell wird deutlich: Hier leben nur Kinder. Die Abwesenheit der Erwachsenen rückt die dargestellte Welt, die den Namen Matara trägt, in die Nähe einer Dystopie. Doch dann manifestiert sich nach und nach die Tatsache, dass die Kinder alle zusammen ein einziges großes Spiel spielen. Matara ist ein erfundenes Land, dessen Bewohner, es durch ihr Spiel und die strikte Einhaltung der Spielregeln, gemeinsam imaginieren. So ist das Verbot „nach außen zu verweisen“, also die Außenwelt zu nennen, eine der wichtigsten Regeln überhaupt.
Ein namenlos bleibender Junge, im Text der kleine Bruder genannt, wird dabei zur zentralen Figur, der dem Autor die Erzähl-Perspektive leiht. Er und der „große Bruder“ genießen in der Gesellschaft von Matara eine besondere Rolle. Die beiden Brüder sind Späher, die die Umgebung Mataras durchstreifen und auf feindliche Bewegungen hin überwachen.
Die beeindruckende Sprachkraft Riikonens lässt die Abenteuer der Jungen zu einem sinnlichen Erlebnis werden. Besonders die Natur, in der sich die Brüder bewegen, wird mit großer Detailliebe zum Leben erweckt. Es entsteht der Eindruck unendlicher Weiten. Der Text feiert die Fantasie der spielenden Kinder, ihren Ideenreichtum und den außergewöhnlichen Zusammenhalt, der Matara überhaupt erst möglich macht.
Mit enormer Energie entwirft der Autor eine Welt, die einem schier den Atem raubt. Seine Darstellung ist virtuos komponiert. Der Roman erscheint so dicht und realistisch, wie der Wald, in dem sich Matara befindet. Ein eigenes Universum, kompakt und in sich völlig stimmig konstruiert. Die spannende Geschichte und die komplexen Charaktere helfen ganz gut über einige erzählerische Längen hinweg. Sprachlich ist der Roman ein echtes Meisterstück, das zu recht von der finnischen Presse gefeiert wurde.
Auch die Protagonisten und ihre Beziehungen untereinander zeichnet Riikonen sehr authentisch. Es geht in dieser Gesellschaft um Hierarchien und politische Machtkämpfe. Die imaginierte Welt unterscheidet sich nicht wirklich von einer vergleichbaren Gesellschaft in der realen Welt der Erwachsenen. Klare Befehlsketten halten den Staatsapparat am Laufen. Es herrscht ein diffuses Weltbild, eine kriegerische, gewaltverherrlichende Ideologie. Eine komplexe Mengelage aus Ehre, Treue, Personenkult und ständig am Leben erhaltenen Feindbildern. Kriegerische Konflikte werden initiiert, um die Gruppenidentität zu stärken und die Machtposition des jeweils Herrschenden zu festigen.
Matara ist ein Spiel, aber keines, aus dem man einfach aussteigt, wenn man keine Lust mehr hat. Das Spiel ist größer als der Einzelne. Das Spiel wird vom Autor und seinen Figuren mit einer Vehemenz verfolgt, der dem Ernst des realen Lebens in Nichts nachsteht. Und so hält sich auch Riikonen an die Regeln und bleibt dem realistischen Ton treu, indem er die politischen Gespräche und Kämpfe ebenso beschreibt wie er es täte, wären die Handelnden Erwachsene und die Kämpfe echt.
Die Inszenierung des Spiels ist kompromisslos. So entsteht ein Bild, das durchaus unbequeme Fragen aufwirft.
Auf den ersten Blick ist Matara ein Land, in dem nur Kinder unterwegs sind. Aber um genau zu sein: Es sind nur Jungs. Mädchen bzw. Frauen finden in dieser Welt nicht statt. Ihre Existenz wird auf ein Minimum reduziert. Sie werden durch Puppen reminisziert, die die Jungs ausschließlich als Sexualobjekte begehren.
Diese kindliche Welt ist keine Idylle. Die Spielregeln sind archaisch und kriegerisch. Die Vorstellung kindlicher Unschuld wird nachhaltig demontiert. Matara funktioniert wie ein Versuchslabor, das im Kleinen die patriarchalen Strukturen der Außenwelt nachahmt und so die Spielenden darauf vorbereitet. Gewalt ist ein völlig selbstverständlicher Teil des Spiels. Sogar der Tod wird imitiert. Es wird sowohl getötet als auch gestorben. Die Protagonisten erleben, wenn auch in abgemildeter, der Realität nicht bis zur letzten Konsequenz nachgeahmter Form, Angst und Trauer. Man gewöhnt sich daran, die Hemmschwelle des Tötens zu überwinden, da es als Teil des Spiels akzeptiert wird.
Matara mag nicht echt sein. Aber seine Mechanismen sind es. Ist das Spiel der Kinder also „nur“ eine Imitation der Welt der Großen? Oder spiegelt das Spiel etwas Elementares wider? Etwas, worauf sich die Welt der Erwachsenen gründet? Manifestiert sich im Spiel vielleicht sogar Geschlechtspezifisches?
An diesem Punkt fehlte mir die Einordnung durch den Autor.
Der kleine Bruder durchlebt eine Veränderung. Mit dem Älterwerden setzt eine Reflektion ein, mit der auch eine gewisse Distanzierung einher geht. Doch das passiert äußert zaghaft. Niemals verstößt der kleine Bruder gegen die Regeln. Das Ausscheiden aus Matara impliziert den Verlust der Kindheit. Es bleibt offen, ob er hierüber Erleichterung oder Trauer empfindet. Es wirkt wie eine Mischung aus beidem. Ob dies der Beginn eines Emanzipationsprozesses sein könnte, bleibt offen. Als Leserin frage ich mich, woher die das Matara-System relativierende Kraft kommen soll. Welche Werte dem entgegengesetzt werden.
Ich suche nach Hinweisen und sehe das dem Roman vorangestellte lateinische Zitat „De nobis fabula narratur“, zu Deutsch „Die Geschichte wird über uns erzählt.“ Es geht um ein „uns“. Enthält die Geschichte also einen Ausweg? Einen Zugang zur einer anderen Realität? Nach über 300 Seiten im Matara-Universum sehne ich mich nach einem Wink des Autors, der mir vermittelt, das Gelesene als Kritik zu betrachten. Oder als eine Mahnung.
Was bleibt sind am Ende viele Fragen und ein mitreißender Roman.
- Autor: Matias Riikonen
- Titel: Matara
- Originaltitel: Matara
- Übersetzer: Maximilian Murmann
- Verlag: Karl Rauch Verlag
- Erschienen: Juli 2024
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 320 Seiten
- ISBN: 978-3792002797
Wertung: 12/15 dpt