Subtiler Ausnahme-Thriller
Der aktuelle Roman von Colin Niel, “Darwyne”, entführt in das Überseedepartement Französisch-Guyana, welches überwiegend aus tropischem Regenwald besteht. Ort der Handlung ist ein Slum namens Bois Sec am Rande von Cayenne, in der die Sonderpädagogin Mathurine für die Kinder- und Jugendhilfe arbeitet. Genauer gesagt im Büro für Sozialevaluationen, was bedeutet, dass sie prüft und eine Empfehlung ausspricht, ob ein Kind in seiner – sofern vorhandenen – Familie bleiben darf oder besser in eine Pflegefamilie abzugeben ist. In Bois Sec ein mühsames Unterfangen.
Mathurines aktuellster Fall ist aufgrund großer Arbeitsüberlastung bereits sieben Monate alt. Damals ging eine anonyme Beschwerde wegen Kindesgefährdung ein. Der zehnjährige Darwyne lebt in einer schäbigen Wellblechhütte unmittelbar am Regenwald mit seiner Mutter Yolanda, die er über alles liebt. Es gibt nur zwei Probleme: Yolanda ist sehr hübsch und zieht die Männer wie die sprichwörtlichen Fliegen an. Aktuell handelt es sich um Jhonson oder wie Darwyne sagen würde, um Stiefvater Acht. Seine sieben Vorgänger verschwanden eines Tages, wodurch Darwyne endlich wieder mit seiner Mutter allein sein durfte. Das zweite Problem ist allerdings, dass die Liebe seiner Mutter wiederum ein recht fragiles Gebilde darstellt. Darwyne leidet an einer Fußmissbildung, ist meist schmutzig und wird von Yolanda wenig liebevoll Opossum genannt. Oder Drecksviech. Und wie ein Tier wird er mitunter auch behandelt.
Die familiäre Fassade nach außen steht. Mathurine hat einen positiven Eindruck von der gepflegten Yolanda, auch an Jhonson scheint es nichts auszusetzen zu geben. Sie hört zunächst nur Gutes, allerdings verweigert Darwyne die Mitarbeit. Aus der Vergangenheit weiß er, dass man ihn nur der Mutter wegnehmen will. Dann lieber davonrennen, in den Dschungel, denn da kennt er, das Opossum, sich bestens aus.
Colin Niel „muss“ man kennen
Wer „Nur die Tiere“ und oder „Unter Raubtieren“ kennt, weiß in etwa, was einen erwartet. Ein weiterer Thriller, der zahlreiche Preise einheimsen wird und der in der Krimibestenliste August 2024 zu finden ist. Colin Niel ist ein Meister subtiler Spannung, der sich vor allem in den unzähligen Graustufen des Lebens auskennt. Manche werden sich womöglich nach zweihundert Seiten fragen, wann es denn endlich mal losgeht mit dem Thrill, dabei hat er da schon lange angefangen. Wer einen klassisch aufgebauten Krimi im Dreiklang von Verbrechen, Ermittlung und Auflösung erwartet ist hier falsch. Und wer gerne knietief neben dem Serienmörder im Blut der Opfer watet sowieso. Es gibt kein offensichtliches Verbrechen, keine Polizei oder Detektive. Die Stiefväter Eins bis Sieben sind einfach weg. Colin Niel bietet feine, ruhig erzählte Thrillerkost, bei der es vor allem auf die Nebentöne ankommt. Jede Nuance kann einen entscheidenden Hinweis erhalten, vieles bleibt jedoch im Ungefähren.
Colin Niel kommt mit vier Personen aus, die unwichtigen Nebenfiguren außen vorgelassen. Obwohl, unwichtig, nun ja. Auch hier kommt der eine oder andere Hinweis ans Tageslicht. Die Haupthandlung orientiert sich an Darwyne, Yolanda, Mathurine und Stiefvater Acht. Doch was wurde aus den sieben Vorgängern? Hatte Darwyne mit ihrem Verschwinden etwas zu tun? Ein Zehnjähriger?
Darwyne dürfte nicht zufällig namentlich an den Naturwissenschaftler Darwin erinnern, demzufolge jene am besten Überleben, die sich am besten anpassen können („Survival of the Fittest“). Zu diesen gehört Darwyne auf jeden Fall, wie Mathurine erkennen wird, denn auch wenn er zurückgeblieben wirkt, stets schmutzig wie ein Tier herumläuft und in der Schule nichts hinbekommt, so macht ihm im Dschungel niemand etwas vor.
Von den Figuren erfährt man wenig. Yolanda ist tief religiös und glaubt ihren Sohn „dressieren“ zu müssen. Die Bezeichnung „familiäre Gewalt“ trifft es nur bedingt. Jhonson ist ein illegaler Einwanderer, der sich durchzuschlagen versucht und Yolanda schnell verfallen ist. Wie seine Vorgänger, weswegen er nach Ansicht von Darwyne auch schnell wieder weg muss; denn so sehr seine Mutter ihn misshandelt, als Opossum verdient er es ja nicht besser, ist sie doch immer für ihn da. Mathurine letztlich träumt von einer Schwangerschaft, die partout nicht eintreten will. Ursprünglich studierte sie Anthropologie, ist zudem vom Regenwald fasziniert, weswegen sie eine Beziehung zu Darwyne aufbauen kann.
„Darwyne“ lässt sich vielfältig lesen. Ein Thriller über verschwundene Ex-Liebhaber, familiäre Gewalt, obsessive Besessenheit und ein Kind mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Ökothriller trifft es in gewisser Weise ebenfalls. Ausgerechnet durch den seltsamen Darwyne lernt Mathurine und damit der Leser, einen neuen Blick auf die Natur zu werfen. Während die Menschen der Natur kaum noch Beachtung schenken und sie deswegen zerstören, gelingt es Darwyne mit den Tieren zu kommunizieren. Er befindet sich im Dschungel im völligen Einklang mit der Natur. Es könnte ein schönes Leben sein, Opossum hin oder her, wären da nicht die ständig störenden Stiefväter.
- Autor: Colin Niel
- Titel: Darwyne
- Originaltitel: Darwyne. Aus dem Französischen übersetzt von Anne Thomas
- Verlag: Suhrkamp
- Umfang: 302 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Juni 2024
- ISBN: 978-3-518-47424-2
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Wertung: 12/15 dpt