Aus Sygna in die weite See, dem Schattenwal entgegen
Als Autor arbeitet Christian Vogt zumeist in Kooperation mit seiner Ehefrau Judith und gemeinsam haben sie schon einige Fantasy-Abenteuer ersonnen, und zwischen Buchdeckel herausgebracht. „Die 13 Gezeichneten“ war ihre erste gemeinsam geschriebene Trilogie. Wer beiden auf Social Media folgt, erfuhr nach dem Abschluss der Reihe, dass für sie ein besonderes Herzensprojekt zu Ende ging. Daher kam es nicht ganz überraschend, als weiterer Lesestoff aus der Welt in und um Sygna angekündigt wurde. Allerdings von Christian Vogt allein, sozusagen als Solo-Album. Mit „Mutterentität“ erschien im Oktober 2020 Christians Novelle im Ach je Verlag und weitere wurden angekündigt. Nachdem der Kleinverlag jedoch seine Pforten schließen musste, galt es ein neues Verlags-Zuhause für das Projekt zu finden. In Österreich beim Verlag ohneohren wurde man fündig. Ingrid Pointecker und ihr Team brachten „Mutterentität“ als ersten Teil der Serie „Schattenspiele“ im Mai 2024 erneut heraus, dem Ende Juli die etwas umfangreichere Novelle „Im Schatten des Leviathans“ folgte.
Ning ist Astrologie-Lehrling (auch Schicksalsmechanik genannt) im Stadtstaat Sygna bei Meister Yeremias. Eines Tages erscheint Madame Feyola in der Werkstatt des Meisters und unterbreitet ihm und seinem Lehrling ein Angebot, das diese nicht ablehnen können. Sie fahren also gemeinsam mit Madame und der Schiffsmannschaft der Kormoran zur See, um einen Wal zu fangen. Die Aufgabe der Astrologen entspricht der eines Navigators. Anhand ihrer Voraussagungen aus den Sternenbildern wird die Position des Schiffs und des Wals bestimmt. Warum diese Aufgabe Astrologen und nicht Navigatoren anvertraut wird, darüber hüllt sich Madame in Schweigen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass es nicht um einen gewöhnlichen Wal geht. Ziel ist es, den König der Schattenwale zu erlegen, den Leviathan. Dieses mächtige Wesen lebt in der Schattenwelt und der Realität, wandelt als Grenzgänger zwischen den Welten.
Es geht zunächst gemächlich zu an Bord, bis man beschließt zur Übung einen anderen Schattenwal zu erlegen, bevor die Jagd auf den Leviathan beginnt. Ein blutiges Handwerk wird getan, das mit dem Walfängerruf „Ein toter Wal oder in Stücken das Boot.“ noch lange nicht vorbei ist. Nach dem erfolgreichen Probelauf steuert die Kormoran die Insel der Bukanier an. Ab hier überschlagen sich die mysteriösen Ereignisse: seltsame Rituale und Prophezeiungen, Mord, Spionage, Kommunikation mit geheimen Codes und einer Künstlichen Intelligenz, sowie Schwarze Magie. Und eine Jagd, die das Schicksal der Welt bestimmen wird.
Neue und alte Freunde
An Bord der Kormoran hat Kapitänin Girad das Sagen und ihre Autorität wird durch ihr Holzbein noch gesteigert. Eiserne Disziplin verlangt sie von ihrer Mannschaft und bestraft jede Verfehlung hart. Trotzdem kann sie sich des Respekts der Seeleute sicher sein. Matrose Matteo wird Nings Freund an Bord, einer der ihn liebevoll neckt und ihm beibringt, was ein Seemann und Walfänger wissen muss. In Sygna ist Ning mit Li-Zah befreundet, die Schauspielerin und Liebste von Kumari, beide aus „Mutterentität“ bereits bekannt. Ihr berichtet Ning in Telegrammen das Wichtigste von seiner Reise und benötigt schließlich ihre Hilfe. Und die leistet eine weitere Persönlichkeit, die Lesenden der ersten „Schattenspiele“-Novelle ebenfalls bereits begegnet ist.
Wie viele Wendungen passen in eine Novelle?
Ning erzählt in „Im Schatten des Leviathans“ rückblickend derartig viele Ereignisse und Wendungen auf nicht einmal 100 Seiten, dass tatsächlich der Eindruck entsteht, Christian Vogt hatte es darauf abgesehen, möglichst viel davon unterzubringen. Andere Autoren hätten daraus vielleicht einen 500 Seiten langen Roman geschrieben. Zuweilen ist das Erzähltempo so hoch, dass man zurückblättert und noch einmal liest, um zu verstehen, wie – zum Teufel – Ning gerade in diese Situation geraten ist. Erstaunlich ist dabei, wie viel an Atmosphäre, detailverliebter Beschreibung und Spannung Lesende in der hohen Ereignisdichte spendiert bekommen. Keiner der Charaktere bleibt blass, Schauplätze nehmen Gestalt und Farbe an. Hintergründe werden plausibel erklärt und Emotionen reißen uns tief in die Geschichte hinein. Informationen ohne Info-Dump über nautische und andere unbekannte Begriffe erhält man durch Anmerkungen des Archivs am Ende eines jeden Kapitels. Zum Teil mit humorvollen Ergänzungen ausgeschmückt, die einfach nur Spaß machen. Dazu geht die Novelle auf Themen wie Kolonialherrschaft, Ableismus, Queerness und individuelle Entscheidungsfreiheit ein und macht die Story dadurch reicher und schöner.
Gerne noch mehr davon
Klar, wenn es um das Thema Waljagd in der Literatur geht, denkt man automatisch an den Klassiker „Moby Dick“ von Herman Melville. Selbst wer dieses Buch nicht kennt (so wie ich), bemerkt vielleicht, dass Christian seinen ersten Satz: „Nennt mich Ning.“ aus dem Klassiker abgeschaut hat. Der beginnt mit „Call me Ishmael“. Und das Kapitän Ahab, der Moby Dick jagt, ebenfalls ein markantes Holzbein hat, hat sich spätestens mit den Verfilmungen herumgesprochen. Mich hat „Im Schatten des Leviathans“ allerdings sehr an den postapokalyptischen Roman „Das Gleismeer“ von China Miéville erinnert. In dieser Geschichte heuert ebenfalls ein junger Protagonist auf einem Zug an, der einen gelben Riesenmaulwurf jagt. Mich freut diese Reminiszenz und Erinnerung an eines meiner Lieblingsbücher und die vielen Brücken zur ersten „Schattenspiele“ Novelle „Mutterentität“. Mit „Im Schatten des Leviathans“ fühlte ich mich ähnlich gut unterhalten, wie mit Miévilles Roman und Vogts erster Novelle.
- Autor: Christian Vogt
- Titel: Im Schatten des Leviathans
- Teil/Band der Reihe: Band 2 der “Schattenspiele” – Novellen aus der Welt “Die 13 Gezeichneten”
- Verlag: Verlag ohneohren
- Erschienen: 07/2024
- Einband: E-Book, Taschenbuch
- Seiten: 120 (ePub: 90 Seiten)
- ISBN: 978-3-903296-82-4 EAN: 9783903296831
- Sonstige Informationen:
- Produktseite beim Verlag Ohne Ohren
Wertung: 13/15 dpt
Auch das “Eburonenlied” ist zu empfehlen!
https://www.histo-couch.de/titel/4229-schwertbrueder-eburonenlied-1/
Zum Glück ist das Buch schon im Haus, sonst müsste ich es nach der Rezension dringend kaufen.