Büchermenschen gegen Rechts – Interview mit Bibliotheksleiter Dr. Boryano Rickum, Berlin


Über 20 Bücher wurden zerschnitten, zerrissen oder beschmiert. Alle Titel beschäftigten sich kritisch mit rechten Tendenzen, mit der Zeit des Nationalsozialismus oder mit sozialistischen Persönlichkeiten. Ein politischer Hintergrund der Taten war daher eindeutig zu erkennen.

Booknerds: Herzlichen Dank, Herr Dr. Rickum, für Ihre Bereitschaft zu diesem Gespräch. In unserer Gesellschaft ist aktuell eine sehr deutliche Diskursverschiebung festzustellen, die von rechten und rechtspopulistischen Akteuren getragen wird. Ein Trend, der ganz sicher auch nicht vor den Büchereien halt macht. Gibt es konkrete Erfahrungen, die Sie in jüngster Zeit gemacht haben, die diesen Trend bestätigen?

Dr. Rickum: Ja, wir hatten in der Stadtbibliothek Tempelhof-Schöneberg in den Jahren 2021 und 2022 mit mehreren Fällen von mutwilliger Bücherzerstörungen in unserer Bezirkszentralbibliothek „Eva-Maria-Buch-Haus“ zu tun. Über 20 Bücher wurden zerschnitten, zerrissen oder beschmiert. Alle Titel beschäftigten sich kritisch mit rechten Tendenzen, mit der Zeit des Nationalsozialismus oder mit sozialistischen Persönlichkeiten. Ein politischer Hintergrund der Taten war daher eindeutig zu erkennen.

Schon in den Jahren zuvor gab es in dieser Bibliothek regelmäßig rechtspopulistische Beschmierungen und immer wieder wurden dort unautorisiert populistische Broschüren und andere Materialien eines Vereins ausgelegt, der einer rechtsextremen Partei nahesteht.

Zudem gab es auch an anderen Standorten Vorfälle. So wurde die Intersex-inclusive Pride-Flagge vor der Mittelpunktbibliothek Schöneberg „Theodor-Heuss-Bibliothek“ und der benachbarten Kirchengemeinde bereits mehrfach heruntergerissen und zerstört. Wir haben diese immer wieder ersetzt und treten weiter entschieden gegen jede Form von Queerfeindlichkeit und intersektionaler Diskriminierung ein.

Booknerds: Hat sich das Nutzer-/Besucherverhalten spürbar verändert? Und wenn ja, wie?

Dr. Rickum: In dem Verhalten unserer Besuchenden konnten wir einen solchen Trend noch nicht wirklich beobachten. Unsere Nutzer_innen haben im Gegenteil bei den Bücherzerstörungen mit großer Solidarität reagiert. Das mag letztlich aber auch daran liegen, dass ein Großteil unseres Publikums Familien mit Kindern sind und daher der inhaltliche Fokus auf ganz anderen Themen liegt.

Grundsätzlich fühlen wir uns bei unserer Arbeit dem Artikel 5 des Grundgesetzes verpflichtet, indem die Meinungsfreiheit festgehalten wird.

Booknerds: Rechte Medien gab es ja schon immer. Da Bibliotheken ein Ort gelebter Demokratie sind, besteht sicher die Verpflichtung auch diesen Veröffentlichungen Rechnung zu tragen, d.h. sie prinzipiell auch zugänglich zu machen? Gibt es dazu gesetzliche Vorgaben?

Dr. Rickum: Nein, es gibt keine gesetzliche Vorgabe und auch keine derartige Verpflichtung. Grundsätzlich fühlen wir uns bei unserer Arbeit dem Artikel 5 des Grundgesetzes verpflichtet, indem die Meinungsfreiheit festgehalten wird, inklusive dem Hinweis, dass Zensur nicht stattfindet sowie dem Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert unterrichten zu können. Und gerade weil wir Bibliotheken mit unserer Arbeit die Meinungsfreiheit stärken, ist es auch wichtig, dass wir unserer Arbeit unabhängig nachgehen können. Sofern die Inhalte von Medien nicht eindeutig Verfassungs- bzw. gesetzeswidrig sind, werden sie auch in der Regel in einer Bibliothek auffindbar sein. Wohlgemerkt nicht alles und in jeder Bibliothek. Dazu sind die Sammlungsaufträge und Bestandsprofile zu unterschiedlich. Zudem kann es durchaus sein, das bestimmte Bibliotheken sich aus fachlich-strategischen Gründen dagegen entschieden haben, Titel aus einschlägig bekannten rechten Verlagen in ihren Bestand aufzunehmen. Vielleicht sogar die meisten. Der Umgang mit solchen Medien ist folglich genauso divers wie insgesamt die Bibliothekslandschaft in Deutschland.

Booknerds: Wie werden eingehende Medien geprüft bevor sie in den Bestand aufgenommen werden?

Dr. Rickum: Grob vereinfacht gesagt kommen viele unserer Medien über eine sogenannte Standing Order in unseren Bestand und die Auswahl erfolgt in diesen Fällen über unsere Lieferanten. Das bedeutet, unsere Lieferanten haben von uns bestimmte Beschaffungsprofile, nach denen sie eine bestimmte Titelauswahl für uns auf dem Medienmarkt treffen. Der größte Teil unserer Medienbeschaffung ist folglich teilautomatisiert, aber wir passen unsere Profile für unsere Lieferpartner auch an, wenn nötig. Dabei haben sie aber auch die Verlagswelt genau im Blick und überprüfen regelmäßig, ob Verlage rechte, bzw. verfassungs- und gesetzeswidrige Publikationen vertreiben.

Grundsätzlich wollen wir antidemokratische Bewegungen nicht dabei unterstützen, eine rechtsextreme Weltsicht zu verbreiten. Denn sie zielen mit ihren Bestrebungen einzig darauf unser bundesrepublikanisches Fundament – also unsere freiheitlich verfasste Gesellschaftsordnung abzuschaffen. Als Öffentliche Bibliothek sind wir Teil der öffentlichen Infrastruktur und damit dieser durch das Grundgesetz verbrieften Ordnung verpflichtet. Es ist jedoch auch unser Anspruch unterschiedliche Perspektiven und Meinungen der Gesellschaft widerzuspiegeln, unabhängig von den persönlichen Vorlieben und Haltungen unserer Mitarbeiter_innen. Ein ausgewogener Bestand bedeutet somit natürlich auch, dass darin Inhalte zu finden sein können, die möglicherweise nicht der Meinung oder Überzeugung einzelner Personen entsprechen.

Booknerds: Ist es schwieriger geworden für Bibliotheksangestellte rechtsextreme bzw. demokratiefeindliche Medien zu erkennen? Gibt es Schulungsangebote, die dafür sensibilisieren?

Dr. Rickum: Die starke Zunahme an Medienangeboten und Publikationen macht es für unsere Mitarbeiter_innen in der Tat schwieriger entsprechende Titel zu erkennen. Aus diesem Grund gibt es im ‚Berufsverband Information Bibliothek (BIB)‘ seit einiger Zeit bereits die Arbeitsgruppe ‚Medien an den Rändern‘, die sich mit diesen Dingen beschäftigt und den Kolleg_innen Hilfestellung bietet.

Zudem gibt andere Organisationen wie die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR), die sehr versiert beraten und Hilfestellungen bieten sowie Angebote zur Sensibilisierung für das Thema machen. Im vergangenen Jahr haben sie auch die Handreichung ‚Alles nur leere Worte? Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts in Bibliotheken‘ publiziert, als weitere Hilfestellung für unsere Arbeit.

Booknerds: Büchereien sind neben der Ausleihe auch oft ein Ort für Veranstaltungen. Hier kommt es zu konkreten Begegnungen, gegebenenfalls auch von Menschen mit sehr gegensätzlicher Weltanschauung. Ist es schwieriger geworden, diese störungsfrei zu moderieren?

Dr. Rickum: Bei unseren Veranstaltungen kommen Diskussionsbeiträge und Wortmeldungen mit rechten oder rechtspolitischen Inhalten bisher glücklicherweise äußerst selten vor. Ich selbst kann mich nur an einen Fall erinnern. Das mag auch an dem großstädtischen Publikum liegen und an den Menschen, die eine Affinität zu Bibliotheken haben. Allerdings sind wir seit den Vorfällen mit den Bücherzerstörungen sehr darauf bedacht, bei Veranstaltungen auf mögliche Störungen vorbereitet zu sein.

Wir würden uns manchmal bei unseren Veranstaltungen sogar mehr demokratischen Diskurs und Streit wünschen. Das gehört für uns zu einer lebendigen demokratischen Debatte einfach dazu. Wichtig ist nur, dass die Beiträge von der Meinungsfreiheit und der Rechtsstaatlichkeit gedeckt sind.

Booknerds: Kommt es vor, dass Veranstaltungsanfragen an die Bibliothek herangetragen werden, deren Thema den demokratischen Standards nicht entspricht? Wie schwierig ist es, diese zu erkennen und sich gegebenenfalls dagegen abzugrenzen?

Dr. Rickum: Sowas ist bei uns in Tempelhof-Schöneberg bisher noch nicht vorgekommen. Ich denke, ein gemeinschaftliches Verständnis bei den Mitarbeiter_innen über unsere Aufgabe als Öffentliche Bibliothek ist ganz wichtig. Wir sind keiner parteipolitischen Strömung verpflichtet aber wir sind auch nicht frei von Werten. In diesem Bewusstsein sollte nicht nur unsere Bestandsarbeit, sondern auch die Zusammenstellung unserer Programmarbeit erfolgen. Allgemein ist es sehr hilfreich, wenn eine politisch beschlossene Bibliotheksstrategie vorliegt, aus deren Zielen deutlich ein demokratiefördender bzw. bewahrender Charakter spricht. Auf diese kann man dann in solchen Szenarien verweisen.

Booknerds: Gibt es konkrete Maßnahmenpakete, mit denen Bibliotheken auf rechtsextreme und rechtspopulistische Versuche der Einflussnahme reagieren? Arbeiten Bibliotheken bei solchen Fragestellungen auch zusammen? Vernetzt man sich?

Dr. Rickum: Natürlich ist das Thema schon lange auf der Agenda der Bibliothekswelt – auch international – und wird regelmäßig auf Veranstaltungen und Fachtagungen besprochen und diskutiert, durchaus auch kontrovers. Wie überall sonst gibt sehr unterschiedliche Erfahrungen in den Bibliotheken und daher auch unterschiedliche Meinungen, wie man mit dieser gesellschaftlichen Entwicklung umgehen sollte. Und dennoch ist es selbstverständlich, dass es auf diesen Zusammenkünften auch zu Kontakten und der Entstehung von Netzwerken kommt. Als wir damals die Vorfälle mit den zerstörten Büchern öffentlich machten, erreichte uns jedenfalls ein wahrer love-storm aus der Bibliothekswelt. Der Deutsche Bibliotheksverband (dbv) formuliert mittlerweile regelmäßig Positionen, die auf die demokratiestärkende Funktion von Bibliotheken hinweisen.

In Berlin wird zudem gerade auf der Landesebene die Einführung eines Bibliotheksgesetzes diskutiert. Ein solches Gesetz ist ein wichtiges Instrument, das uns Bibliotheken bei unserer Mission stärkt, zur Verteidigung der Demokratie beizutragen. Insbesondere, wenn die notwendige Unabhängigkeit unserer bibliothekarischen Arbeit dort verankert wird.

Booknerds: Welche Auswirkungen würden Sie auf das Bibliothekswesen erwarten, wenn extreme rechte Politik an staatliche Macht käme? Bzw. welche Auswirkungen spüren Büchereien vielleicht jetzt bereits in Regionen, in denen z.B. AfD-Politiker:innen in Stadtparlamenten u.ä. sitzen?

Dr. Rickum: Wir können in den Ländern, in denen rechtspopulistische Parteien bereits Regierungsverantwortung erhalten haben, oder auch dort, wo das Regierungshandeln zumindest wesentlich von rechtspopulistischen Sichtweisen geleitet wird, beobachten, dass die dortigen Bibliotheken durchaus unter starken Druck geraten können. Beispiele dafür lassen sich etwa in den USA sowie in Großbritannien finden. Dort sind die Bibliotheken z.T. flächendeckend mit existentiellen Sparzwängen konfrontiert, die Drohung von Schließungen sind dort an der Tagesordnung. Umgekehrt gelten die skandinavischen oder niederländischen Bibliothekssysteme für viele von uns in der deutschen Bibliothekswelt sehr oft als Entwicklungsvorbild, mit ihren Bibliotheksgesetzen und großartigen Bibliotheksneubauten. Aber auch dort gab und gibt es das Problem mit Rechtspopulisten. Ich finde es folglich schwierig, auf diese Fragen eine schlüssige Antwort zu formulieren – noch haben wir in Deutschland insgesamt eine andere Lage. Aber ich denke auch, dass wir uns mit solchen Szenarien durchaus beschäftigen müssen, um uns bestmöglich vorbereiten zu können.

Booknerds: Vielen Dank für das engagierte Interview!

Das Interview wurde per E-Mail von Britta Röder geführt.


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