Amélie Nothomb – Das Buch der Schwestern (Roman)


Nothombs Stärke besteht darin, sehr komplexe Geschichten auf sehr kleinem Raum zu erzählen. Plots, die in anderen Romanen in epischer Breite auserzählt werden würden, erscheinen bei ihr als Hochkonzentrat auf durchschnittlich knapp 120 Seiten. Damit eine solche Erzählweise aufgeht, muss wirklich jeder Satz, jedes Wort, exakt sitzen. Nothomb versteht es hervorragend, ihre Geschichten in die Köpfe der Leser:innen zu pflanzen und das Kopfkino zu aktivieren. Die Phantasie der Leserschaft ist für Nothomb quasi der Katalysator beim Inszenieren ihrer Bücher.

Auch mit ihrem jüngsten Roman „Das Buch der Schwestern“ komprimiert sie eine gut 30 Jahre umspannende Handlung auf nur 160 Seiten. Wie es inzwischen ihr Markenzeichen ist, entwickelt die belgische Bestsellerautorin aus einer originellen Ausgangsidee heraus eine vielschichtige Erzählung. Hier geht es um die Liebesbeziehung zwischen Nora  und Florent, die derart innig ist, dass für andere Menschen in ihrem Umfeld kein Platz ist. Die beiden sind so sehr auf einander fixiert, dass sie darüber auch ihre eigenen Kinder emotional völlig vernachlässigen. Nothomb dekliniert das Bild der dysfunktionalen Familie gnadenlos bis ins kleine Detail durch. Tristane, die Erstgeborene, entwickelt jedoch eine derart außergewöhnliche Resilienz, dass sie ohne Beeinträchtigung die ersten Lebensjahre übersteht. Die Geburt von Schwester Laetitia wird für sie zum großen Glücksfall. Die Mädchen bedeuten einander alles. Ihre Liebe gibt ihnen Halt und begleitet sie durch Kindheit und das junge Erwachsenleben.

Nothomb setzt mit dem Roman der Geschwisterliebe ein rührendes Denkmal. Geschickt verpackt sie kleine gesellschaftskritische Sticheleien in ihre Erzählung, indem sie am Beispiel der arbeitslosen alkoholkranken Tante der Schwestern klarstellt, dass Liebe und Herzensbildung nicht vom sozialen Status abhängig sind.

Es ist immer ein riskantes Vorgehen, einen literarischen Text so stark zu verknappen wie Nothomb es macht. Das kann einer Erzählung zum Vorteil gereichen, da es die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche lenkt. Das birgt aber auch die Gefahr, dass die Authentizität auf der Strecke bleibt. Denn eine Geschichte besteht ja nicht nur aus einer Handlung sondern auch aus seinen Figuren und der Athmophäre.

Im Fall dieses Romans wirkt sich Nothombs Stakkato-Stil dann doch etwas nachteiliger aus als es die sehr emotionale Geschichte am Ende noch ausgleichen könnte. Besonders am Ende des Romans überwiegt der plothafte Stil, der die charakterstarken Schwestern einen Tick zu sehr ins Schablonenhafte reduziert und andere Nebenfiguren der kompletten Bedeutungslosigkeit anheim gibt. Dass ihr die Balance diesmal nicht so gut wie meistens gelingt, stellt aber keine Katastrophe dar. Die Fans der Belgierin werden den Roman trotzdem lieben, der zu 90% einlöst, war er verspricht.

Für Lese-Genuss sorgt in jedem Fall die (Wieder-)Begegnung mit Nothombs elegantem Stil. Die Autorin verbindet klare Präzision mit klugem warmherzigem Witz. Ihre Sprache ist raffiniert ohne manieriert zu sein. So bringt sie auch sprachlich das Wesentliche immer auf den Punkt.

Es ist vielleicht nicht ihr bester Roman. Aber es ist definitiv auch nicht ihr schlechtester. Für eingefleischte Fans ist das Buch ein Muss, für Neulinge ist der Roman ein ordentlicher Einstieg.

  • Autorin: Amélie Nothomb
  • Titel: Das Buch der Schwestern
  • Originaltitel: Le livre des soeurs
  • Übersetzerin: Brigitte Große
  • Verlag: Diogenes Verlag
  • Erschienen: Juni 2024
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 160 Seiten
  • ISBN: 978-3257072860

Wertung: 11/15 dpt


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