Matthias Rische – Die Mimik der Haie (Buch)


„Über den Liebreiz einer Person entscheidet ihr Makel“

Das Cover des Buches zeigt ein verwittertes Heftpflaster, das quer über den Riss in einer Asphaltfläche geklebt ist: Es zeigt den notwendigen, doch vergeblichen Versuch einer Reparatur. Das Cover passt zum Inhalt: In 22 Geschichten nimmt Matthias Rische die Perspektive derjenigen ein, auf die gewöhnlich von außen herabgeblickt wird.

Die titelgebende Erzählung „Die Mimik der Haie“ handelt von dem Heranwachsenden Helge, der im Aquapark die Haifische betrachtet und deren immer gleiche Mimik bewundert: Welche Emotionen sich auch in deren Innern regen mögen, ihr Gesichtsausdruck bleibt kalt und klar. Weder Aggression noch Mitleid sind den Haien anzumerken. Sie sind zum Vorbild für den Jungen geworden, der regelmäßig die Brutalität seines Vaters und die Feigheit seiner Mutter aushalten musste, bis die Mutter starb und der Vater abgehauen ist. Helges einziger Halt ist seine Großmutter, doch die wird allmählich alt und kraftlos. Es wird gezeigt, wie innere Kälte und der Hang zum Töten in Helge Raum finden, der die Kleintiere der Nachbarn zu Tode quält und im Wald verscharrt.

Um in extremster Weise vernachlässigte Kinder geht es auch in der Geschichte „Allein“. Eine Mutter lässt ihre Kinder für vierzehn Tage in ihrem Haus unversorgt zurück. In abgebrochenen Sätzen beschreibt der Junge die aussichtslose Lage. Seine kleine Schwester droht an Mangelernährung und fehlender Hygiene zu sterben. Der Junge ist etwa acht, das Mädchen sechs Jahre alt. Stoffe wie diese hat Matthias Rische aus seiner Erfahrungswelt aufgegriffen. Er arbeitet, dem Umschlagtext folgend, „seit über 36 Jahren mit Kindern, die es schwer haben im Leben“. Aber ob der Autor etwas nur bei seinen Klienten beobachtet hat und ihr Verhalten durch Einfühlung zu erklären versucht, oder ob er selbst involviert ist in die Erfahrung des Andersseins, das spielt für diese Texte keine Rolle, denn sie sind alle aus der Innensicht der Marginalisierten geschrieben.

Die mit einem Umfang von 33 Seiten längste Geschichte mit dem Titel „Sensoren“ erzählt von einem Mittfünfziger mit wildem roten Bart und einer überproportional kräftigen Statur, der sich Herkules nennt. Er bekommt ein Zimmer in einer Einrichtung zugewiesen. Anfangs denkt man, es sei ein Sanatorium oder irgendeine Reha-Einrichtung, doch dann wird immer deutlicher, dass es sich um die geschlossene Abteilung einer bizarren Psychiatrie geht, aus der es wohl kein Entrinnen mehr gibt. Interessant ist, dass der Leser die Umgebung und alles, was geschieht, durch Herkules‘ Brille wahrnimmt. Erst allmählich wird deutlich, dass seine Wahrnehmung durch die Schizophrenie verzerrt ist. Das Andersartige wird im literarischen Text zum Normalen, die Gedankenwelt in der Psychose erhält ihre eigene Logik. Der Erzähler gibt eine Erklärung für das Abdriften von Herkules, der mit Realnamen Carlo Weinhold heißt: Er hat den Krebstod seiner Gefährtin nicht überwinden können und ist daran verrückt geworden. Als Ersatz für ein menschliches Gegenüber sammelt er nun Puppen:

Alle Puppen hatten unterschiedliche Farben, Formen und bestanden aus verschiedenen Materialien. Manche besaßen Gesichter aus Plastik, andere waren auf Porzellanköpfen aufgemalt oder gehäkelt. Es gab unterschiedliche Geschlechter und Berufsgruppen.

Das, was allen Figuren gemein war, war, dass ihnen etwas fehlte. Er mochte diese defekten Gestalten. Perfektion war für ihn nichts Erstrebenswertes. Über den Liebreiz einer Person entschied doch gerade ihr Makel. Ein auffällig unauffälliger Fehler.Seite 110

Kino und zum Teil auch Fernsehen sind der Literatur vorausgeeilt, Menschen aus Randgruppen zu entstigmatisieren und den Marginalisierten eine Stimme zu geben. Es scheint, als habe die erzählende Literatur noch Nachholbedarf. Vertraut gewordene Themen wie zum Beispiel die Sozialisation als Migrantenkind oder die Entdeckung der eigenen Queerness haben in die Romane und Erzählungen der Hochkultur Eingang gefunden. Aber Texte wie die von Matthias Rische verbleiben bis dato noch in der Nischenkultur. Der periplaneta Verlag will „dem Zeitgeist trotzen, anstatt ihm zu entsprechen. Und dies bedeutet heute zu allererst, Herzblut und Begeisterung zu entwickeln, anstatt Rendite, Ramsch und Kurzweil siegen zu lassen.“[1]

Matthias Risches Erzählungen sind an keiner Stelle aufgesetzt, sondern stets authentisch. Der Autor folgt der Idee seiner Geschichte und ihrem Personal. Dabei beugt er sich nicht immer den erzählerischen Konventionen. Aber vielleicht gilt sein Postulat, dass erst eine Unebenheit die wahre Schönheit hervorbringt, nicht nur für reale Menschen oder Erzählfiguren, sondern auch für die Texte selbst.

Seit dem 12. Juni 2024 gibt es „Die Mimik der Haie“ auch als Hörbuch.

  • Autor: Matthias Rische
  • Titel: Die Mimik der Haie
  • Verlag: Edition Periplaneta
  • Erschienen: 11/2023
  • Einband: Klappenbroschur
  • Seiten: 168
  • ISBN: 978-3-95996-203-2
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite

Wertung: 13/15 dpt


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