Wendungsreicher Agentenroman
Eigentlich möchte der emeritierte Historiker Professor Hunt in New York für sein neues Buch recherchieren, doch wird er bereits am Flughafen in eine Arrestzelle gebracht. Emma Spencer, Agentin des britischen Geheimdienstes MI6, teilt dem überraschten Hunt mit, dass in dessen Wohnzimmer am Gordon Place in South Kensington, eine der reichsten und vornehmsten Gemeinden Londons, sein Nachbar Gerald Fraser tot aufgefunden wurde. Genauer gesagt wurde er erschlagen, während unter der Fensterbank ein bis dahin geheimer Hohlraum zum Vorschein kam. Hunt kommt als Mörder nicht in Frage, denn zum Tatzeitpunkt saß er bereits im Flugzeug. Doch wer könnte den ruhigen und zurückhaltenden Fraser ermordet haben?
Die Wohnung von Hunt gehörte früher Daphne Parson, die schon während des Zweiten Weltkrieges für die Special Operation Executive, kurz SOE, arbeitete; unter anderem 1944 im Widerstand in Athen, wo sie verhaftet wurde. Nach dem Krieg arbeitete Daphne 1948 in Wien, wo sie in einem Abhörtunnel die Russen belauschte. Mit einigen Kollegen versuchte sie später in den russisch besetzten Teil der Stadt zu gelangen, ein Einsatz mit finalen Folgen.
Nachkriegszeit wirkt sich auf Gegenwart aus
Karina Urbach, habilitierte Historikerin, legt mit „Das Haus am Gordon Place“ einen gelungenen Mix aus Zeitgeschichte und Kriminalroman vor, dessen Auflösung von Fakten und Fiktion sich erst in dem umfangreichen Nachwort vollends erschließt. Geschickt verläuft die Handlung, wie in guten Spionageromanen üblich, über weite Strecken im Ungefähren und Nebulösen. So viel darf verraten werden: Mehrere Mitbewohner am Gordon Place haben eine gemeinsame Vergangenheit respektive Vorfahren, deren Wege sich seinerzeit in Wien gekreuzt haben. Das Mordmotiv, dies wird schnell klar, muss in der Vergangenheit zu finden sein. Was aber ist vor über siebzig Jahren geschehen und warum der Mord erst heute?
Die Handlung wird auf zwei Ebenen erzählt. Daphne und Kollegen im Wien der Nachkriegszeit und Hunt in der Gegenwart an der Seite von Spencer. Der Plot ist äußerst verzwickt, man muss, wie einst bei LeCarré, aufmerksam lesen. Konzentration ist angesagt, zumal man ohnehin nicht weiß, wer letztlich auf welcher Seite steht. So begreift auch Hunt erst nach und nach, dass Spencer ihm viele Dinge vorenthält, insbesondere was die Beziehungen seiner Nachbarn untereinander betrifft. Und wieso wird er überhaupt einbezogen?
Die Ereignisse werden scheibchenweise aufgedröselt, wobei es die zu Beginn eines Kapitels angegebene Zeit beziehungsweise Jahreszahl zu beachten gilt, denn es gibt auch Rückblicke in das Jahr 1944, wo Daphne schreckliche Dinge erlebt hat, die sie Jahre später in Wien wieder einholen. Da die meisten Zusammenhänge erst nach weit vorgerückter Lesezeit ersichtlich werden, kann und soll hier zum Inhalt nicht mehr verraten werden. Nur so viel: Es geht um Folter und Goldraub, Nazis und Russen, Liebe und Verrat. Lesenswert.
- Autorin: Karina Urbach
- Titel: Das Haus am Gordon Place
- Verlag: Limes
- Umfang: 384 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: März 2024
- ISBN: 978-3-8090-2766-9
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Wertung: 12/15 dpt