Ferdinand von Schirach – Tabu (Buch)


Ferdinand von Schirach - Tabu (Cover © Penguin / btb )

Literarische Texte sind vielschichtig, ihre Rezensenten unterschiedlich und die Kriterien dafür, was heute wem als lesenswert gilt, uneinheitlich wie nie. Die Menge möglicher plausibler Rezensionen zum selben Text ist schwer überschaubar angewachsen. Der Rezensent kann nicht mehr tun als sein Verständnis vom Werk und seinem Wert anderen überprüfbar anzubieten. Da Texte aber komplex sind – nicht unbedingt im Sinn von „schwierig“, aber von „zusammengesetzt“ – können sie auch in sich unterschiedlich zu bewerten sein. Wann ist schon ein Roman so schlecht, dass er nicht auch irgendetwas Interessantes, Unbekanntes, Bemerkenswertes bieten kann?

Eigentlich sollte man daher jede Rezension mit zwei Sätzen beginnen, dem besten und dem schlechtesten, den man über das rezensierte Produkt sagen kann. So entgeht man eher dem Verdacht der Manipulation, der Polemik oder Werbung, setzt ein Spektrum und bleibt so vielleicht selbst für gegensätzliche Lesarten nachvollziehbar.

Ferdinand von Schirachs 2013 erschienener Roman „Tabu“ bietet sich für ein breites Meinungsspektrum an. Es ist ein sprachlich glatter, teils geschickter und anregender Text, den man gerne wegliest, ohne sich zu langweilen. (Das wäre der beste Satz, den ich darüber sagen kann.) Zugleich kocht Schirach nach einem literarischen Rezept, das kleine Mengen hocharomatischer Bedeutungszutaten – Wahrheit, Liebe, Kunst, Gerechtigkeit – zu einem pikanten, aber leichtverdaulichen Ragout zitiert, das leider selbst nach keiner dieser Delikatessen schmeckt.

Die Handlung entspinnt sich aus der schweren Kindheit des später berühmten Künstlers Sebastian von Eschburg, der familiäre Kälte mit einer Leidenschaft für Fotografie und Farben kompensiert, uns als wahnsinniges Genie entgegentreten soll, geheimnisvolle Frauen kennenlernt und schließlich von dem schrullig-abgebrühten Anwalt Biegler in einem Mordprozess verteidigt wird, in dem es keine Leiche gibt. Die im Buch ausführlich diskutierte Folterdrohung eines Kriminalbeamten, die im sonst unpassenden Titel mitschwingt, scheint an den Daschner-Prozess angelehnt. Der Autor ist Jurist.

Davon abgesehen, dass die Literaturgeschichte voller Juristen ist, von denen die literarisch umstritteneren immer wieder glauben, es wäre für Leser interessant, wie man als Anwalt arbeitet oder Gerichtsprozesse ablaufen, während die sensibleren verstehen, dass Literatur wenig mit Juristerei zu tun hat, ja bestenfalls genau das Gegenteil erreicht – Vieldeutigkeit nämlich, moralische und sprachliche, die nicht nur behauptet, sondern im Text verwirklicht wird – erscheint die schroffe Zweiteilung des Buches in Künstler- und Kriminalroman unverständlich. Das mag dem Autor bewusst gewesen sein, der beide Handlungsstränge mit philosophischen Fädchen zu verknüpfen sucht, die er in oft gekünstelte Dialoge einflicht.

Am Ende seines Prozesses etwa fragt von Eschburg seinen Anwalt unvermittelt: „Was ist Schuld?“ Der mürrische Anwalt antwortet nicht. Später aber, kurz vor Ende, als sollte hier eine Summe gezogen werden, sagt er zu sich selbst: „Schuld – das ist der Mensch.“ Ein Satz, der wohl Dostojewski-Sound erzeugen soll, jedoch grammatisch wie gedanklich peinlich nachhallt.

Eschburg geht es, wie gesagt, nicht nur um Schuld, auch zu Wahrheit oder Schönheit lässt ihn Schirach unklar monologisieren. Familie, Kunst, Erfolg, Religion, Sexualität, Gewalt und Tod sind weitere im Roman eröffnete Bedeutungsfenster. Salopp gesagt: Es herrscht semantischer Durchzug. Kein großes Thema, das nicht kurz über die Bühne der Geschichte stolperte wie der versteckte Liebhaber in einer Boulevardkomödie. Eine beurteilbare Position oder auch nur Perspektive zu einem davon lässt sich leider nicht erraten. Zu knapp und kryptisch erscheinen sie im Text. Die Coolness der Figuren wie die Lakonie auch des Erzählers setzen sich dem Verdacht aus, statt viel sagen sehr viel meinen zu wollen – was genau, ist nicht so wichtig.

Das existentialistische Gefasel bleibt Staffage, schlecht arrangiert wie die „afrikanischen Masken“, die anfangs im Zimmer von Eschburgs Vater und später im Behandlungsraum seines Psychiaters hängen: auf den ersten Blick vielleicht ein realistisches Detail, auf den zweiten floskelhaft und abgegriffen, sogar im selben Text zweimal verwendet wie die chinesische Vase in einem billigen Film, die als Requisit in verschiedenen Zimmern auftaucht. So genau wird schon keiner hinschauen …

Die mittelmäßige Meinung vom eigenen Publikum ist wesentlicher Bestandteil mittelmäßiger Kulturprodukte. „Tabu“ ist ein solches Produkt. Wem glatte Konsumierbarkeit genügt, der greife zu. Nicht zu langweilen, ist auch eine Kunst. Allerdings gelingt sie Eisherstellern, Boxern oder Hundewelpen mindestens genauso gut. Und das ganz ohne philosophisches Getue.

Cover © Penguin


Wertung: 7/15 dpt


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