Elf Erzählungen, lose miteinander verwoben, lenken den Blick in Richtung Osten der Bundesrepublik Deutschland. Zwei der Erzählungen tragen den Titel „Muldental“, die erste und die letzte. Mit ihnen steckt Autorin Daniela Krien den zeitlichen Rahmen ab, beginnend einige Jahre vor der Wende, endend gut zwanzig Jahre danach. Und so schließt sie auch einen Kreis, denn am Ende begegnen die Leser:innen einem Protagonisten aus der ersten Erzählung wieder.
Kriens Figuren sind die „kleinen“ Leute in der großen Geschichte. Die Autorin porträtiert Menschen, deren Existenz auf den Kopf gestellt wird, weil sie in den Sog überwältigender Veränderungen geraten sind. Die deutsche Wiedervereinigung hat für die Menschen im Osten auf einen Schlag alle bisher vertrauten politischen und wirtschaftlichen Strukturen komplett beseitigt.
Niemand hatte sie darauf vorbereitet.
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Die Leser:innen begegnen zum Beispiel der jungen Anne, die nach der Wende eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin in einer Stadt im Westen beginnt und sich ständig Vorurteilen und Diskrimierungen wegen ihrer Ost-Herkunft ausgesetzt sieht. In der Erzählung „Plan B“ geht es um Maren und Betti, die aus ihrer Erwerbslosigkeit in die Prostitution flüchten. In „Sommertag“ wird der Mechaniker Otto zur tragischen Figur, der komplett überfordert von den falschen Versprechungen des Kapitalismus die Kontrolle über sein Leben verliert.
Völlig ohne Pathos erzählt Krien von entstehenden Machtgefällen, von Gewinnern und Verlieren, wobei ihr Mitgefühl ganz klar den Verlierern gehört. Die erzählten Schicksale sind Einzelschicksale, doch zugleich stellt die Autorin das Exemplarische heraus. Man fragt sich bei der Lektüre, ob man tatsächlich geglaubt hatte, solch enorme Umwälzungen würden sich nicht auf die Leben der Menschen auswirken und enormen Schaden anrichten können.
Kriens Prosa besticht durch die klare Form und präzise Sprache. Der Erzählton ist durchgängig ruhig, fast wie ein Understatement angesichts dessen, was die Erzählungen inhaltlich lieferen. Umso eindringlicher wirkt das Gezeigte.
Die Autorin versteht es, ihre Leser:innen mit jeder einzelnen Geschichte mitzunehmen und zu berühren. Sie lenkt den Blick unter die Oberfläche, die das Offensichtliche abbildet, und lädt zu neuen Sichtweisen ein. Ihre Erzählungen sind kluge Plädoyers, die um Verständnis werben. Denn sie macht Motive transparant, die zu Verhaltensweisen führen, die auf den ersten Blick als Fehlverhalten interpretiert werden.
Muldental verdient daher eine unbedingte Leseempfehlung. Die Erzählungen liefern einen hervorragenden Beitrag zur historischen Aufarbeitung der jüngsten innerdeutschen Geschichte und ein sensibles Werben um Verständnis und Miteinander. Und ganz “nebenbei” sind sie einfach wundervoll zu lesen.
- Autorin: Daniela Krien
- Titel: Muldental
- Verlag: Diogenes Verlag
- Erschienen: Juni 2024
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 240 Seiten
- ISBN: 978-3257247046
Wertung: 13/15 dpt