Tomer Dotan-Dreyfus – Birobidschan (Buch)


Ich muss gestehen, anfangs habe ich den titelgebenden Ort Birobidschan für eine Fiktion gehalten. Denn allzu märchenhaft erscheint dieser Ort in jeder Phase des Erzählens. Unwirklich auf eine Weise, die dem Erinnern an einen Traum mehr gleicht als der Wiedergabe realer Ereignisse.

Es handelt sich um eine Story, bei der sich die Leser:innen die Chronologie der Ereignisse selbst erschließen müssen. Der Autor spielt mit mehreren Handlungs- bzw. Zeitebenen, die im Laufe des Romans ineinandergreifen.

Wir erfahren von einem weit im Osten Europas liegenden Städtchen namens Birobidschan. Diese jüdische Stadt wurde als ein Siedlungsexperiment 1934 unter Stalin gegründet. Der Zweite Weltkrieg beginnt, zahlreiche Männer müssen an die Front, das Leben fließt weiter. 1941 erlebt Birobidschan einen Flüchtlingsstrom als rund 200 Menschen, die meisten von ihnen Kinder, plötzlich auftauchen. Ein Ereignis, das sich ins kollektive Gedächnis der Bewohner brennt.

Mit dem tatsächlich real existierenden Ort hat der Handlungsort des Romans jedoch nur wenig zu tun. Der geografische Raum dient vor allem als Projektionsfläche für die Phantasie des Erzählers. Denn trotz des turbulenten Weltgeschehens, wirkt das jüdische Schtetel wie ein der Welt entrückter Ort, dem die Zeit nur wenig anhaben kann. Die „große“ epocheprägende Geschichte bewegt sich über Birobidschan hinweg ohne die Menschen sichtlich zu beeindrucken. Oder anders gesagt: Die Geschichte des Ortes wird durch die Menschen geprägt. Es sind ihre Geschichten, die der Autor erzählt. Die offizielle Historie liefert dazu maximal ein Hintergrundrauschen.

In Birobidschan war alles anders.

Seite 13

Dotan-Dreyfus erzeugt einen Raum jenseits der Wirklichkeit, der fast wie ein Idealzustand wirkt. Die Versuchungen der modernen Zivilisation sind zwar bekannt, üben jedoch keinen nennenswerten Einfluss auf die Birobidschaner aus. Zwar leben und leiden die Menschen auch hier wie an anderen Orten auf der Welt, spüren Kummer, erdulden Verluste und alles, was zum Leben dazu gehört, aber es herrscht dabei eine ungewöhnliche Ausgewohenheit, die sich vor allem im Umgang miteinander spiegelt. Dreyfus entwirft das Bild einer eingeschworenen Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt und die Bewohner auffallend respektvoll und verantwortungsbewußt miteinander umgehen.

Die Birobidschaner bemühten sich stets, dass jedem von ihnen dieselbe Summe zur Verfügung stand (…) Der Kaufakt selbst hatte also kaum eine Bedeutung, und den Bauern und Fischern ging es nicht darum, Geld zu verdienen, sondern darum, die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen.

Seite 46/47

In diese märchenhafte Kulisse hinein setzt der Autor seine Protagonisten, die durch ihre Geschichten miteinander verbunden sind. Drei Generationen verknüpft er auf diese Weise. Da sind z.B. die Jugendlichen Alex, Rachel und Joel, die ihre Geschichte um Liebe und Eifersucht erleben. Rachels Mutter Josephin, die den Verlust zweier Männer betrauert. Rachels Freundin Sulamith, die ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter Julia hat. Gregory, der einst als Waisenkind nach Birobidschan kam und sein Freund Sascha. Alle drei Zeitebenen werden quasi zeitgleich erzählt. Das Vorher und Nachher erschließt sich nur nach und nach.

Gefahr für diese fast utopische Idylle droht eigentlich nur von außerhalb und wird als solche auch instinktiv erkannt. Verkörpert wird „das Böse“ durch zwei mysteriöse Reisende, die sich angeblich auf Bärenjagd befinden und in deren Gesellschaft sich ein stummes Kind befindet. Die Männer, der Bär und das Kind sorgen für Verunsicherung und bringen das Gleichgewicht ins Wanken.

Getragen wird der Roman durch die poetische Sprache des Autors. Über allem liegt eine sanfte Melancholie, die Dotan-Dreyfus mit seinem warmherzigen Humor auflockert. Das Geheimnisvolle ist Programm. Vieles wird nur angedeutet. Nicht alles wird auserzählt. Der Autor hinterlässt zahlreiche Leerstellen, die den Leser:innen Raum zur eigenen Interpretation überlassen.

Dotan-Dreyfus‘ Roman ist ein literarisches Spiel mit der Zeit. Ein Historischer Roman, der den klasssichen Weg der Chronologie verlässt, um Erinnerungen aufzuspüren und zu einer eigenen Geschichte zu formen.

Obwohl der Roman inhaltlich eine gewisse Herausforderung darstellt, bietet er durch die klare Sprache einen leichten Zugang und garantiert eine genußvolle Lektüre.

  • Autor: Tomer Dotan-Dreyfus
  • Titel: Birobidschan
  • Verlag: Verlag Voland & Quist
  • Erschienen: Februar 2023
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320 Seiten
  • ISBN: 978-3863913472


Wertung: 13/15 dpt


Schreibe einen Kommentar

Hinweis: Mit dem Absenden deines Kommentars werden Benutzername, E-Mail-Adresse sowie zur Vermeidung von Missbrauch für 7 Tage die dazugehörige IP-Adresse, die deinem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, in unserer Datenbank gespeichert. E-Mail-Adresse und die IP-Adresse werden selbstverständlich nicht veröffentlicht oder an Dritte weitergegeben. Du hast die Option, Kommentare für diesen Beitrag per E-Mail zu abonnieren - in diesem Fall erhältst du eine E-Mail, in der du das Abonnement bestätigen kannst. Mehr Informationen finden sich in unserer Datenschutzerklärung.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Beiträge

Du möchtest nichts mehr verpassen?
Abonniere unseren Newsletter!

Total
0
Share