Mit “Was die Toten bewegt” ist T. Kingfisher eine moderne, zeitgeistige Adaption von Edgar Allan Poes Klassiker “Der Untergang des Hauses Usher” gelungen, die im England des Jahres 1890 und dementsprechend etwas später als Poes Original, das 1840 veröffentlicht wurde, spielt.
Kingfisher vermischt das Grundgerüst der Ursprungsgeschichte (Freund*in der Familie besucht Erkrankte in gruseligem Anwesen mit See), mit fantastischen Anteilen und modernen Elementen und paart all dies mit einer schaurig-gruseligen Atmosphäre. Anders als im Original wird das Geheimnis um den Untergang des Hauses Usher jedoch gelöst.
So kommen die Geschwister Roderick und Madeline Usher ursprünglich aus dem Land Gallazien, das neben Moldawien liegt. Die Gallazier sind ein wehrhaftes Volk und haben in der Vergangenheit in mehreren Kriegen gekämpft, teilweise auch in Kollaboration mit den Briten. Außerdem sprechen sie mit gallazisch eine eigene Sprache, die über sieben Pronomengruppen verfügt. Abhängig von Alter, Geschlecht und Tätigkeit gibt es also weit mehr Möglichkeiten einen Menschen anzusprechen, als im weit verbreiteten binären System. Aus Gallazien besucht die beiden Geschwister dann Alex Easton. Alex Easton ist nonbinär, was im Buch am Rande auch immer wieder zum Thema gemacht wird, so zum Beispiel wenn they beschreibt, dass Menschen das Bedürfnis haben they zu kategorisieren oder dass they sich die Brüste nicht mehr abbindet. Alex Easton ist Eidsoldat*in in Gallazien gewesen, die eine eigene Pronomengruppe haben und mit ka oder kan angesprochen werden. Kleiner Disclaimer für die, die sich gegen Neopronomen wehren: Die Verwendung ist mir bis zur Erklärung erstmal gar nicht aufgefallen, ich hielt sie für Tippfehler, die meinen Lesefluss nicht wirklich beeinträchtigt haben.
Von dieser jetzt erstmal recht trocken und weit ausgeholten Erklärung des Worldbuildings kommen wir auch zum einzigen Kritikpunkt den ich habe, auch wenn dieser nicht die Geschichte an sich, sondern lediglich die deutsche Übersetzung betrifft: Alex Easton wird in der englischen Fassung ganz klar als nonbinär gelabelt. Schon im Klappentext wird als Pronomen “they/their” verwendet und der Satz in dem Alex dies im Buch darstellt, welche Pronomen they wegen der ehemaligen Tätigkeit als Eidsoldat*in verwendet, nämlich ka und kan lautet: “Once you leave, incidentally, it’s up to you what anyone calls you. Roderick went back to using he. After fifteen years in uniform , though, ka was just who I was”. In der mir vorliegenden Übersetzung wurde daraus: “Hatte man die Armee einmal verlassen, war es einem selbst überlassen, wie andere einen ansprechen sollten. Roderick sprach mich mit er an. Doch nach fünfzehn Jahren in Uniform war ich eben einfach ka”. Das ist leider schlicht und ergreifend falsch übersetzt und auch auf dem deutschen Klappentext werden für Alex die männlichen Pronomen “er/ihm” verwendet. Wie so etwas zustandekommen kann, erschließt sich mir nicht und auch wenn die Verwendung von nonbinären Pronomen im Deutschen noch weniger geläufig ist als im englischsprachigen Raum, empfinde ich diese Übersetzung als Negierung nonbinärer Existenzen. Ich würde mich freuen, wenn dies in der nächsten Auflage geändert würde.
Was mir aber wirklich gut gefallen hat, war die gruselig-schaurige und manchmal auch bizarre Atmosphäre, die Kingfisher im Buch schafft. Pilze, die mich vorher auch schon interessiert haben, werde ich nach der Lektüre dieses Buches wohl nie wieder mit den gleichen Augen betrachten können. Dieses Motiv, das auch in Poes Original vorkommt, findet sich in Kingfishers Adaption nämlich immer wieder und garantiert so, wie man es nicht erwartet. Sogar unter dem Schutzumschlag und auf dem Vorsatz haben sie sich eingeschlichen – da allerdings in besonders hübscher Form.
Zudem wird Alex mit der patenten Mykologin Eugenia Potter eine Gefährtin bei der Lösung des Rätsels um das Haus Usher zur Seite gestellt, die auf herzerwärmende Art und Weise dem Klischee einer älteren britischen Lady entspricht. Eugenia ist im Übrigen die ausgedachte Tante von Beatrix Potter, welche tatsächlich existierte und als Illustratorin tätig war.
Allgemein schafft es die Autorin immer wieder, dass man trotz des Grusels und mancher Aspekte, die schonmal an meiner Ekelgrenze verliefen, immer wieder schmunzeln muss. Alex selbst verfügt nämlich auch über einen wunderbar trockenen und sarkastischen Humor.
Weitere Themen, die Kingfisher gekonnt einwebt sind Bewusstheit über Traumafolgestörungen und auch feministische Themen des 19. Jahrhunderts, wie bspw. das Konzept der Hysterie oder die Gleichstellung von Frauen in der Wissenschaft.
Und das alles, also eine schaurige Atmosphäre, ein originelles Worldbuilding, starke Charaktere und Witz, verpackt sie auf noch nicht einmal 200 Seiten.
Schon im November erscheint mit “Was die Nacht verschweigt” eine Fortsetzung zu “Was die Toten bewegt”, in der Alex zurück nach Gallazien reist, aber auch Mrs. Potter wieder eine Rolle erhält. Ich freue mich schon sehr auf diesen zweiten Band.
Sieht man also von dem Fauxpas in der deutschen Übersetzung ab, würde ich “Was die Toten bewegt” allen Fans von schaurigen Erzählungen in der Tradition von Poe empfehlen. Man sollte sich nicht allzu schnell ekeln und keine Problem damit haben, wenn in Klassikeradaptionen oder historischen Erzählungen auch zeitgeistige Elemente mit einfließen – dann ist dieses Buch wirklich ein Highlight für einen verregneten Nachmittag.
- Autor: T. Kingfisher
- Titel: Was die Toten bewegt
- Teil/Band der Reihe: 1 von ?
- Originaltitel: What moves the dead
- Übersetzer: Elena Helfrecht
- Verlag: Crosscult
- Erschienen: 06/2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 192
- ISBN: 978-3-9866645-7-2
- Sonstige Informationen:
- Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 14/15 dpt