Sylvia Schmieder – zusammen bleiben (Buch)

Sonntagskaffee bei Oma Mari. Im weitläufigen Garten in Frankfurt-Sachsenhausen kommt die Familie zusammen. Drei Generationen. Es wird gelacht und gescherzt, auch um die eine und andere Spannung zu überspielen. Doch hinter der Idylle offenbaren sich kleine Risse. Der Großvater verhält sich seltsam, wie immer eigentlich. Die heranwachsende Claudia kennt es gar nicht anders. Die Erwachsenen sprechen nicht darüber. Also wird es wohl normal sein.

Die Eröffnungsszene des Romans „zusammen bleiben“ präsentiert das typische Bild einer Familie in den 70er-Jahren. Der Krieg ist längst vorbei. Niemand spricht über die prägenden Erlebnisse dieser Zeit, obwohl die Spuren noch immer allgegenwärtig sind.

Geschichte, das zeigt Autorin Sylvia Schmieder in ihrem großen Familienroman „zusammen bleiben“, wirkt jedoch immer über ihre Zeit hinaus. Erlittene Traumata prägen Familien generationenübergreifend und so gerät auch die lange nach Kriegsende geborene Claudia in den Wirkungskreis der Vergangenheit.

Mit einem großen Schritt zurück führt Schmieder die Leser:innen in die zweite Handlungsebene, in die 1930er Jahre. Die gebürtige Ungarin Mari zieht ihrem deutschen Mann Ludwig zuliebe mit den gemeinsamen Kindern 1939 nach Frankfurt am Main. Ludwig will eine Schuhfabrik übernehmen. Doch die Wirtschaftslage ist schwierig und mit Ausbruch des Krieges werden die Pläne sehr schnell über den Haufen geworfen. Ludwig, der davon träumt Karriere zu machen, schließt sich der Waffen-SS an. Er ist viel unterwegs und Mari muss den Alltag mit drei Kindern quasi allein organisieren. Eine Aufgabe, die sie an ihre Grenzen bringt.

Schmieder beschreibt den Alltag ihrer Protagonistin auf mitreißende Weise. Maris Heimweh in der fremden Stadt, die zunehmend katastrophaler werdende Versorgungslage, die Belastung drei Kinder versorgen zu müssen, die Sehnsucht nach dem meist abwesenden Mann. Die Situation wird immer bedrohlicher. Die Autorin erzeugt große Empathie für ihre Protagonistin, die alles daransetzt, die Familie durch die schwere Zeit zu bringen.

Ihre Darstellung ist Geschichtsschreibung aus der Mitte heraus. Mari ist Teil ihrer Zeit. Sie besitzt keine Distanz zum Geschehen. Das Unbehagen den Nazis gegenüber empfindet sie nur am Rande und auch nur äußerst instinktiv. Maris Blick ist naiv; die Beklemmung beim modernen Leser über die von ihr eingefangenen Eindrücke wird dadurch umso größer.

Der Autorin gelingt das Kunststück, uns ihre Protagonistin nahe zu bringen, ohne sie zu idealisieren. Nie gerät sie in Versuchung, deren Tun zu relativieren oder zu entschuldigen. Es obliegt uns, den Leser:innen, die Handlungen Maris zu bewerten bzw. einzuordnen. Dabei macht uns Schmieder das Handeln ihrer Protagonistin leicht nachvollziehbar. Maris Mann ist als SS-Angehöriger aktiv an der Verfolgung politischer Gegner beteiligt. Das unvorstellbare Grauen, das die SS verursacht, wird nicht verschwiegen. Mari will sich dem jedoch nicht stellen. Die Taten ihres Mannes bis zur letzten Konsequenz fertig zu denken, würde ihre Ehe und letztendlich ihre Familie zerstören.

Sylvia Schmieder hat einen historischen Roman geschrieben, der auf vielen Ebenen begeistert. Der ereignisreiche Plot wird spannend wie in einem Unterhaltungsroman inszeniert. Ihre Akteure sind lebensnahe Charaktere, die sich keinen Klischees beugen. Die Autorin folgt nicht nur der großen Geschichte historisch zuverlässig, jede noch so kleine Alltagszene ist von ihr mit äußerster Akribie ausgestattet. So wird die Lektüre zur faszinierenden Zeitreise, bei der man sich u.a. auch durch das Frankfurt der Kriegsjahre bewegt. Durch die parallel angesetzte Handlung um Maris Enkeltochter Claudia, schlägt Schmieder immer wieder eine Brücke von der Vergangenheit in die Nachkriegszeit.

Maris Familie spiegelt eine Gesellschaft, die droht von größtmöglichen Gegensätzen zerrissen zu werden. Maris Mann ist bei der SS, ihr Bruder landet als Dissident im Straflager. Schmieder belegt eindrucksvoll, dass Geschichte nie wirklich abgeschlossen ist. Das Erinnern und Verarbeiten der Ereignisse bleibt als lebenslange Aufgabe bestehen. Opfer und Täter müssen nach Ende des Krieges ebenso miteinander leben wie die Mitglieder einer Familie, die auf unterschiedlichen Seiten standen. Schweigen und Verdrängen wird zum Teil der (Überlebens-)Strategie der Nachkriegsgesellschaft. Fluch und Segen zugleich. Auch hier überlässt uns die Autorin die Bewertung. Ihren Auftrag, uns einen Zugang zum Verstehen zu ermöglichen, hat sie am Ende des Romans meisterhaft erfüllt.

Große Leseempfehlung!

  • Autorin: Sylvia Schmieder
  • Titel: zusammen bleiben
  • Verlag: edition federleicht
  • Erschienen: April 2024
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 336 Seiten
  • ISBN: 978-3946112945


Wertung: 14/15 dpt

Teile diesen Beitrag:
1 Kommentar
Schreibe einen Kommentar

Hinweis: Mit dem Absenden deines Kommentars werden Benutzername, E-Mail-Adresse sowie zur Vermeidung von Missbrauch für 7 Tage die dazugehörige IP-Adresse, die deinem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, in unserer Datenbank gespeichert. E-Mail-Adresse und die IP-Adresse werden selbstverständlich nicht veröffentlicht oder an Dritte weitergegeben. Du hast die Option, Kommentare für diesen Beitrag per E-Mail zu abonnieren - in diesem Fall erhältst du eine E-Mail, in der du das Abonnement bestätigen kannst. Mehr Informationen finden sich in unserer Datenschutzerklärung.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Beiträge

Du möchtest nichts mehr verpassen?
Abonniere unseren Newsletter!

Total
0
Share