Man hat den Eindruck, es passiert nicht viel in diesem stillen Roman von Michaela Maria Müller. Obwohl das eigentlich nicht stimmt. Aber Müller lässt die Dinge so leise geschehen, dass man als Leser:in selbst ganz ruhig wird. Es ist eine Geschichte, die sich vor allem unter der Oberfläche abspielt.
Jan ist Historiker und arbeitet für das Archiv des Auswärtigen Amtes. Enni, zehn Jahre jünger als Jan, ist Notrufdisponentin bei der Feuerwehr. Ihre beiden Leben sind völlig unterschiedlich. Jan ist verheiratet und hat zwei Kinder, Enni ist Single. Ihre Begegnung ist zufällig, aber bedeutungsvoll.
Flüsse wissen nichts voneinander, bis sie sich begegnen. Und dann gehören sie zusammen.
Seite 31Die Geschichte treibt zunächst wie ein Fluss voran, in dessen Atmosphäre man beim Lesen eintaucht. Und auch die Protagonisten schwimmen in diesem Strom mit. Vielmehr lassen sie sich anfangs treiben. Die Dinge geschehen, ohne dass sie sich dagegen wehren. Müller verpackt die Unzufriedenheit ihrer Figuren in stille Melancholie. Weder Jan noch Enni sind wirklich glücklich dabei, wie ihnen ihr Leben geschieht.
Mit Jan und Enni entwirft Müller zwei gegensätzliche Charaktere, zwei, die sich in unterschiedlichen Zeitzonen zu bewegen scheinen. Jan staunt über die stets vorauseilende Enni mit ihrer zupackenden Art. Enni betrachtet Jan wie jemand, der in der Vergangenheit verhaftet ist. Ihre Freundschaft hilft Jan und Enni dabei, herauszufinden, was sie wollen. Das Hinterfragen ihrer aktuellen Situation bringt sie beide dazu, etwas verändern zu wollen.
Immer wieder wird die besondere Rolle der Zeit betont. Müller widmet ihr viel Raum für Symbolik und wiederkehrende Metaphern. Auch wird die Auseinandersetzung mit der Zeit im Rahmen historischer Forschung thematisiert. Wie nah kann Geschichtsschreibung der Realität kommen? Wie präzise ist das, was erinnert wird? Jan empfindet seine berufliche Beschäftigung mit geschichtlichen Quellen als zunehmend belastend je näher diese seiner eigenen Biografie kommen.
Die Zeit ist der eigentliche Handlungsort und als solcher nicht statisch. Müllers Figuren bewegen sich in ihr in mehr als eine Richtung. Erinnerungen sind ebenso wichtig wie aktuelle Ereignisse. Besonders auf Jan trifft dies zu. Erst die Aufarbeitung der eigenen Erinnerung ermöglicht ihm, seine Gegenwart zu gestalten.
Müller erzählt in ihrem Roman die Geschichte einer Freundschaft. Es geht um zwei Menschen, die einander genau das geben, was dem anderen fehlt. Zwei Menschen, die sich aus belastenden Umständen befreien, um am Ende den ersehnten Neuanfang zu erhalten. Müller weiß ihre Geschichte mit viel Empathie für ihre Protagonisten zu gestalten. Geschickt vermeidet sie jeden romantischen Kitsch und hält dabei dennoch die Möglichkeit von Liebe immer offen.
Ihr Stil ist eingängig und angenehm unprätentiös. Die gut 180 Seiten des Romans sind daher gut und schnell zu lesen. Doch der schmale Umfang sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass die Handlung weit in die Tiefe reicht und es sich lohnt, der Lektüre viel Zeit einzuräumen.
- Autorin: Michaela Maria Müller
- Titel: Zonen der Zeit
- Verlag: Quintus Verlag
- Erschienen: März 2024
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 184 Seiten
- ISBN: 978-3969820964
Wertung: 12/15 dpt
