Friedrich Ani – Lichtjahre im Dunkel (Buch)


Die letzte Vermissung

Leo Ahorn ist verschwunden. Drei Tage später oder sind es fünf, wendet sich seine Frau Viola an Privatdetektiv Tabor Süden, da sie auf keinen Fall möchte, dass die Polizei eingebunden wird. Süden begibt sich ins Blaue Eck, wo Leo seine Abende verbrachte, gemeinsam mit anderen traurigen Gestalten wie dem pensionierten Umzugsunternehmer Georg oder dem ebenfalls im Ruhestand befindlichen Olaf. Man träumt vor sich hin, löst in mehreren Versuchen das Kreuzworträtsel, verfolgt am tonlos eingestellten Fernseher ein Fußballspiel oder trinkt ganz einfach sein Bier. Oder mehrere. Hier fühlt sich Süden wohl, der schnell merkt, dass ihm Viola nicht die ganze Wahrheit erzählt hat. So befragt er die Gäste, doch Wort faul wie sie sind, erfährt er wenig. Dann halt beobachten. Das Letzte, was man von Leo weiß, ist, dass er am Montagabend nach einem heftigen Wortgefecht mit Georg das Eck verließ. Betrunken wie immer und natürlich ging es bei dem Streit ums liebe Geld. Sein Zeitungsladen läuft schon lange nicht mehr, die inzwischen eingerichtete Paketstation mehr schlecht als recht. Doch Georg will ihm kein Geld leihen, um sein Geschäft erneut umzubauen. Eine Schnapsidee, passend zur Kneipe.

Auf Stewart folgte Chris Norman, den Süden (genau wie Howard Carpendale) seit seiner Jugend als eine Art Stalker wahrnahm: Wo immer Süden sich zum Bebieren hinbegab, Norman hockte schon im Lautsprecher und sülzte.

Eine Woche nach Leos Verschwinden lässt sich Viola von ihrer besten Freundin überreden endlich zur Polizei zu gehen, wo sie von Hauptkommissarin Fariza Nasri erfährt, dass ihr Mann bereits gefunden wurde. Unweit von Nasris Wohnung im Kofferraum eines Autos, welches dem früheren Zuhälter Roger Braun gehört, der zugleich Nasris Nachbar ist und ein Alibi hat. Einer Stichverletzung am Hals erlegen, so der Befund zu Leo. Nasri übernimmt die Ermittlung, die zu einem weiteren, geheimnisvollen Zuhälter aus Berlin führt. Für Süden ist derweil der Fall abgeschlossen, wenngleich er nicht viel dazu beitragen konnte. Leo ist gefunden. Feierabend. Das nächste Bier. Da ist der Roman gerade am Ende seines ersten Drittels angekommen.

Kein Süden ohne Bebierung

Mit „Lichtjahre im Dunkel“ verabschiedet sich der Erfolgsautor Friedrich Ani von Tabor Süden, seinem wichtigsten Protagonisten, der ihm unter anderem wiederholt den Deutschen Krimipreis eingebracht hat. Aktuell steht der Titel auf der Krimibestenliste, die jeder Krimifan kennen sollte. In der Jury sitzen renommierte Krimiexperten, die allerdings gerne Krimis hervorheben, die sich nicht selten auffallend weit vom Ursprung des Genres entfernen. Fans von Friedrich Ani wird das gewiss nicht abschrecken, aber an dem Autor scheiden sich seit jeher die Krimi-Geister. Vorausschauend hat der Suhrkamp-Verlag das Buch „nur“ als Roman bezeichnet. Verständlich, denn der Protagonist verschwindet auffällig früh aus der Handlung; es gibt ja niemanden mehr zu suchen und für die Mordermittlung ist nun mal die Polizei zuständig. Zum großen Finale tritt Süden noch einmal kurz in Erscheinung. Dann allerdings mit einem Paukenschlag.

Sie sagt, ich soll dich aufsuchen und um Verzeihung bitten. Wofür, frag ich, sie sagt: Für alles im Leben, was sie dir angetan hat. Ich versteh nur Bahnhof. Im Zimmer war eine Luft wie in der Sauna. Winter, schon klar, und es hat geschneit, gut, aber bei so einer Hitze schmilzt jedem der Verstand.

Ani nutzt das Genre des Krimis, um mit gewohnter sprachlicher Brillanz, gesellschaftliche Defizite aufzuzeigen, immer eng orientiert an gescheiterten Existenzen. Schon beim Lesen wird klar, die kriegen es nicht mehr auf die berühmt-berüchtigte Kette, selbst wenn es Hilfe gäbe. Der Nabel der Welt ist hier das Blaue Eck, zumindest für Leo und Georg. Beide sind Nachbarn, man kennt sich, man betrinkt sich. Leo hat zu Leiden. Sein Geschäft geht den Bach runter, die Menschen kaufen nicht mehr im Schreibwarenladen wie noch vor Jahren, sondern direkt im Supermarkt. Seine Frau Viola setzt ihm ebenfalls zu, gefangen in einer Gedankenwelt, die einer Mischung aus Querdenker- und Reichsbürgerszene gleicht. Eine große Verschwörung ist im Gang, finstere Mächte bedrohen die Welt, die Polizei gehört selbstredend dazu. Paranoia in Formvollendung. Bei Georg sieht es nicht besser aus, was in seiner Familiengeschichte begründet liegt, die im Mittelteil – der Krimi verabschiedet sich an dieser Stelle – auf über hundert Seiten plattgewalzt wird. Beeindruckend, wie intensiv es Ani schafft, in das löchrige Gehirn eines Alkoholikers einzudringen, der sich an die Mordnacht nicht mehr erinnern kann. Hatte er Leo auf dem Heimweg noch getroffen? Kam es zum Streit? Hat er ihn womöglich erstochen? Soziale Kontakte hatte Georg zeitlebens nie, dafür ständig Besuch von inneren Dämonen, die ihm – neben dem Alkohol – mächtig zusetzen. Verzweifelte Gestalten, wohin man blickt.

Ich will die Aussage nicht verweigern. Deswegen bin ich doch da, um auszusagen, um zu sagen, was passiert ist. Ich hab Leo umgebracht. Ende der Ballade.

Kurzum: Eine Gesellschaft im Wandel, zunehmende Vereinsamung und Verwahrlosung, Verschwörungstheorien und ein kurzer Einblick in die Halbwelt sind die Ingredienzien von Südens letztem Fall. Wie erwähnt, wer Ani respektive Süden gerne liest, kann bedingungslos zugreifen. Allerdings entfernt sich Ani wie gewohnt über lange Passagen vom Krimigenre, so dass Süden lange untertaucht und zur Randfigur mutiert. Dennoch: Hut ab vor der finalen Bebierung.

  • Autor: Friedrich Ani
  • Titel: Lichtjahre im Dunkel
  • Verlag: Suhrkamp
  • Umfang: 445 Seiten
  • Einband: Hardcover
  • Erschienen: März 2024
  • ISBN: 978-3-518-43156-6
  • Produktseite


Wertung: 11/15 dpt


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