Über Götter, Gezeiten, Menschen und Macht
Als Mawat, der Sohn des Statthalters, von der Front in seine Heimatstadt Vastai zurückkehrt, findet er eine unglaubliche Situation vor: Sein Vater ist spurlos verschwunden und sein Onkel Hibal setzte sich selbst auf die Bank des Statthalters. Die Vereinbarung mit dem Gott Iradens, der Schutz vor Krieg und Krankheiten garantieren soll, lässt diesen Ablauf eigentlich nicht zu. Seit das Reich Iraden entstand, gilt: Wenn der Rabe, durch den der Rabengott mit den Menschen kommuniziert, stirbt und der Gott ein neues Rabenei erwählt, fordert er ein Menschenopfer. Das des Statthalters. Doch der letzte Statthalter ist nun verschwunden und sein Bruder übernahm die Position. Wie konnte das geschehen?
Mawat weigert sich daran zu glauben, dass sein Vater sich vor der Verantwortung drückte und die Stadt verließ. Sein hitziges Temperament treibt ihn zu skurrilen Protestaktionen gegen den Coup seines Onkels. Sein Adjutant Eolo hingegen versucht herauszufinden, was wirklich geschehen ist. Und kommt einem perfiden Verrat auf die Spur.
Der Gott, der die Geschichte um Mawat und den Konflikt um dessen Vater und den Posten des Statthalters erzählt, spricht Eolo direkt an. Und erzählt zusätzlich seine eigene Geschichte. Wo er herkommt, wie er einen anderen Gott als Freund und die Menschen als Gläubige gewinnt. Und wie er nach Vastai gelangt und dort ebenfalls verraten wird.
Zwei Geschichten, ein Erzähler
Die Geschichte um Mawat und Eolo wird dem Adjutanten und uns rückblickend in der Du Perspektive erzählt. Wer sie erzählt, ist zunächst nicht ganz klar und ein spannendes Geheimnis zu Beginn. Recht spontan, lediglich durch einen kleinen Raben vor dem Abschnitt gekennzeichnet, wechselt die Erzählung in die Lebens- und Entwicklungsgeschichte eines Gottes.
Eolos Erlebnisse lesen sich beinahe wie ein Krimi mit dem Adjutanten als Ermittler. Akribisch und klug beobachtet er, was in und um den Rabenturm geschieht und befragt die Mächtigen Vastais: den selbsternannten Statthalter, die Mutter der Stillen und schließlich die Mitglieder des Rats der Weisungen. Ebenso scheinbar unbeteiligte Durchreisende, die Xulahni und schließlich sogar die Götter. Eolo zieht die richtigen Schlussfolgerungen und wagt das Unmögliche. Es ist eine spannende und sich stetig entwickelnde Geschichte um einen sympathischen Protagonisten.
Die Lebens- und Entwicklungsgeschichte des erzählenden Gottes bietet interessante Parallelen, aber auch Kontraste zu den Geschehnissen in Vastai. Sehr langsam, bedächtig und geduldig beobachtet und analysiert auch der Gott, was um ihn herum geschieht: die geologische Verwandlung und Entwicklung seines Lebensraums, das Erscheinen erster Lebewesen und Menschen, die Bildung erster Sprachen und Kulturen, die ersten Interaktionen zwischen Gott und Mensch. Die Autorin Ann Leckie gibt dieser zum Teil philosophisch anmutenden Erzählung viel Zeit und Raum sich zu entfalten. Vielleicht etwas zu viel des Guten und zu langwierig. Denn bis zur Hälfte des Buchs ist kaum eine inhaltliche Verbindung der beiden Geschichten auszumachen.
Form follows function
Bereits im Science-Fiction Epos „Die Maschinen“ wählte Ann Leckie eine Erzählweise, die wesentliche Elemente der Geschichte perfekt unterstrich: die Verwendung des generischen Femininums, um die genderneutrale Sprache der Radch darzustellen. Und die Erzählung aus der Perspektive eines Raumschiffs, um die einheitliche Sicht und Steuerung von Aktionen der Klonsoldaten zu verdeutlichen. In „Der Rabengott“ erschaffen wechselnde „Ich“ und „Du“ – Perspektiven einen durchgängigen Dialog zwischen dem erzählenden Gott und dem Protagonisten Eolo. Der Gott wählte den Adjutanten bewusst aus, da er als Einziger unabänderlich erscheinende Dogmen hinterfragt und sie bricht. Die intensive und bedächtige Erzählweise der Lebensgeschichte des Gottes passt zu der überraschenden Conclusio im Konflikt zwischen Göttern und Menschen.
„Der Rabengott“ erzählt eine hintergründige und kluge Geschichte über vermeintliche Gleichgewichte, über Verrat und Machtmissbrauch und das Einreißen von in Stein gemeißelten Glaubenssätzen. Lesenden, die Freude an klassischen Dramen im phantastischen Gewand haben, auf ungewöhnliche Weise erzählt und mit philosophischen Gedanken angereichert, kann dieser erste High-Fantasy Roman von Ann Leckie wärmstens empfohlen werden. Ungeduldigen Lesenden, die eine stringente Handlung mit hohem Tempo bevorzugen, eher nicht. Ausnehmend attraktiv präsentiert die Hobbit Presse das Buch „Der Rabengott“. Mit dem mit schwarzen Rabenfedern verzierten Buchschnitt und bronzefarbenen Intarsien artigen Verzierungen auf dem Cover ist es ein echter Hingucker.
- Autorin: Ann Leckie
- Titel: Der Rabengott
- Übersetzer: Michael Pfingtl
- Verlag: Hobbit Presse
- Erschienen: 03/2024
- Einband: Hardcover mit farbigem Buchschnitt und Lesebändchen
- Seiten: 368
- ISBN: 978-3-608-96602-2
- Sonstige Informationen:
- Produktseite beim Verlag
Wertung: 10/15 dpt