Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend (Buch)


Seit Kindertagen schwärmt Yasemin für Vito, den hübschen Jungen aus der Nachbarschaft. Aus der Schwärmerei wird schließlich die erste Liebe, die Yasemin nach einer Weile beendet. Man verliert sich aus den Augen. Doch als Vito ihr nach 20 Jahren erneut begegnet, übt er noch immer eine besondere Anziehungskraft auf Yasemin aus.

Nein, dieser Roman ist keine Liebesgeschichte. Ohne Rücksicht auf ihre Hauptfigur seziert die Autorin deren Seelenleben und legt dabei minutiös die Ursachen einer toxischen Beziehung frei. Schonungslos demontiert Ohde das klassische Ideal romantischer Liebe. Yasemin verliebt sich in Vito, ohne ihn wirklich zu kennen. Von Beginn an projiziert sie ein Idealbild in ihn hinein. Und auch während die beiden ein Paar sind, gibt der introvertierte Junge, und später der Mann, zu wenig von sich preis, als dass Yase sich ein Bild von ihm machen könnte.

Es war eine Verstrickung, keine Verliebtheit.

Seite 62

Projektion ist das große Thema des Romans. Yasemin versucht Vorstellungen gerecht zu werden, die im Grunde nie ihre eigenen waren. Es sind traditionelle Vorstellungen und Rollenbilder, denen sie folgt. Bilder, wie sie die Werbung und die Medien reproduzieren und an denen sie sich orientiert. Völlig selbstverständlich nimmt sie diese vorgegebenen Rollen an, die die Gesellschaft für sie bereit hält.

Yasemin bewegt sich wie durch ein Labyrinth. Egal was sie tut, nie gelingt es ihr völlig frei in ihren Entscheidungen zu sein. Sich anzupassen fühlt sich nicht richtig an, aber zu rebellieren empfindet sie auch als falsch, weil sie den Eindruck gewinnt, es nur zu tun, um nicht angepast zu sein. Yasemin ist dermaßen indoktriniert von Rollenbildern und Geschlechterklischees, dass sie ihre eigene Überzeugung überhaupt nicht kennt.

Das seelische Ungleichgewicht der Protagonistin spiegelt sich in ihrer körperlichen Schieflage. Der heranwachsenden Yasemin wird ein Korsett verschrieben, um eine Fehlhaltung der Wirbelsäule zu korrigieren. Sie soll „gerade“ zu werden. Das orthopädische Gerät wird zur Metapher. Die Heranwachsende wird von außen geformt, während sie verzweifelt versucht, von innen heraus ihre eigene Haltung zu finden. Der weibliche Körper ist bestimmten Normen unterworfen. Er gehört sich nicht selbst.

Eine Szene, in der die junge Yase in einem Bus von einem Erwachsenen sexuell belästigt wird, sich aber nicht traut, dagegen aufzubegehren, beschreibt symptomatisch, worauf die Erziehung von Mädchen ausgerichtet ist. Es gelingt Yase nicht, sich gegen die sexuelle Vereinnahmung zu wehren. Sie will keine Szene machen. Der anerzogene innere Widerstand ist zu groß, um sich laut zu widersetzen.

Immer wieder flichtet Ohde Szenen sexueller Übergriffe in ihre Handlung. Szenen, in denen die Frauen einfach nur still halten, weil sie glauben, der Mann besitze ein Anrecht auf ihren Körper.

Seine Größe entsprang seiner Überredungskunst. Der Fähigkeit, ein Nein in ein Ja zu verwandeln. Ein Zauberer war er, der seinen Willen durchsetzte. Wie der Mond das Wasser den Gezeiten unterwarf, war Lydias Freund nicht laut. Sie folgte ihm wie das Wasser. Verschwand hinter den Felsen seines Brustkorbes, nur Schlick war übrig. In sie eingebläut, dass der Wunsch des Mannes in Wirklichkeit auch der ihre sei.

Seite 37

Ohde erzählt die Geschichte aus der Perspektive ihrer Hauptfigur. Wie durch ein Prisma schickt sie alle Ereignisse durch Yasemins Wahrnehmung hindurch. Deren Reflektionen bestimmen den Erzählton des Romans. In dieser Art des Erzählens liegt eine große stille Energie, aber zugleich auch die größte Herausforderung beim Lesen. Denn alle Protagonisten neben der Hauptfigur werden nur durch Yasemins Blick dargestellt. Sie sind Reflektionen. Ihre Motive sind nicht immer transparent. In dem Maße, in dem Yasemin sich die Welt und die Menschen erschließen muss, müssen es auch die Leser:innen im Laufe der Handlung.

Ähnlich wie in ihrem Debüt „Streulicht“ stellt Ohde exemplarisch am Schicksal ihrer Hauptfigur eine gesellschaftliche Misere dar. Nur auf den ersten Blick erscheint der Roman wie eine individuelle Liebesgeschichte. Das Scheitern der Beziehung, das im Grunde nie eine echte Beziehung ist, erweist sich als Exempel.

Ohde geht in ihrer Darstellung sehr subtil vor. Sie ist keine laute Aktivistin. Sie schreit die gesellschaftlichen Missstände nie plakativ heraus. Sie lässt uns das Unbehagen ganz allein aus Sicht ihrer Protagonistin nacherleben. In ihren inneren Kämpfen spiegelt sich die ganze Widersprüchlichkeit des Systems.  Und gerade, weil sie den Blick auf eine Betroffene lenkt, uns anhand einer sehr authentisch erzählten Geschichte ein Einzelschicksal vorführt, ist ihre Darstellung umso eindringlicher. Sie erreicht die Leser:innen auf dem emotionalen Weg und zeigt dadurch auf, dass nicht richtig sein kann, was sich dermaßen „falsch“ anfühlt.

Stärker jedoch als in ihrem Erstling, bleibt Ohde im Einzelschicksal ihrer Protagonistin verhaftet, deren Geschichte sie als einen lebenslangen Befreiungsakt erzählt. Die Protagonistin durchläuft eine quälend langsame, aber spürbare Entwicklung, Rückschläge inbegriffen.

Der besonderen Nähe, die Ohde zwischen Leser:innen und Protagonistin aufbaut, verdankt der Roman seine Stärke, aber auch eine Schwachstelle. Es ist quasi unmöglich, das Verhalten von Vito neutral zu betrachten und einzuordnen. Wie wird er zu der Person, die Yasemin so viel Schaden zufügt? Woher kommen die toxischen Verhaltensmuster, mit denen er auch sich selbst schadet? Diese Ursachen darzustellen hätte der Idee des Romans noch mehr Allgemeingültigkeit verleihen können.

Trotzdem ist „Ich stelle mich schlafend“ ein beeindruckendes Beispiel für Ohdes große literarische Fähigkeit, Unbewusstes im Zwischenmenschlichen sichtbar zu machen und tradierte patriarchale Muster aufzudecken. Fesselnd geschrieben, einfühlsam inszeniert, hallt der Roman lange nach. Dass er zu Diskussionen anregt, weil nicht alle Widersprüche aufgelöst werden, gereicht ihm dabei zum Qualitätsmerkmal.

  • Autorin: Deniz Ohde
  • Titel: Ich stelle mich schlafend
  • Verlag: Suhrkamp Verlag
  • Erschienen: März 2024
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 248 Seiten
  • ISBN: 978-3518431702


Wertung: 12/15 dpt


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