Nach mehr als einem halben Jahr ist es immer noch schwierig über die humanitäre Situation im Gazastreifen, den Anschlag vom 7. Oktober, und die Handlung Israels, Palästinas und der Hamas zu sprechen. Gerade weil eine Positionierung zum Nah-Osten-Konflikt praktisch zum (moralischen) Höhepunkt für so viele andere Themen (wie Rassismus, Antisemitismus, Klassismus, Kolonialismus, Rechtsstaatlichkeit und Antifaschismus) erklärt wurde und sich gerade Deutsche aufgrund ihrer NS-Geschichte gerne einer besonderen Solidarität zu Israel verschreiben, sind Positionierungen zum Konflikt immer mit vielen (moralischen) Gefühlen verbunden. Das ist eine überfordernde Situation – besonders da sich je nachdem, in welchen Umfeldern und Kontexten man sich befindet, Meinungen drastisch unterschiedlich sein können und oft sogar nicht klar ist, worüber überhaupt gerade geredet wird.
“Über Israel reden” von Meron Mendel kann dabei eine Hilfe sein, um zu verstehen, worüber geredet wird, welche Rolle Deutschland in diesem Konflikt spielt und wie man Kritik an der derzeitigen (und seit Jahrzehnten bestehenden Situation) üben kann, ohne sich von rassistische und faschistische Denkweisen einnehmen zu lassen.
Prof. Dr. Meron Mendel ist selbst Jude israelischer Herkunft und Professor an der Frankfurt University of Applied Sciences mit dem Schwerpunkt Transnationale Soziale Arbeit. Als Leitung der Bildungsstätte Anne Frank, Historiker und politisch aktiver Mensch zeichnet sich seine Arbeit dadurch aus, Dialoge zu schaffen und sich gegen Diskriminierung zu stellen. Als er nach Deutschland gekommen ist, fiel ihm schnell auf, dass Israel, sowie die nur müßig aufgearbeitete NS-Geschichte hier wunde Punkte sind. Auf diesen Erfahrungen aufbauend hat er “Über Israel reden” geschrieben, um sich gegen Radikalisierung und Vereinfachung zu positionieren und auf Missstände in dieser moralischen (und auch von politisch Rechten vereinnahmten) Debatte hinzuweisen.
In dem Buch wird zunächst aufgearbeitet, wie Israel Teil der deutschen Staatsräson wurde und wie dies die deutsche Debatte und außenpolitische Positionierung beeinflusst hat. Daraus folgt eine Erklärung der BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) -Bewegung, die ein Protest gegen israelisches Staatshandeln und stellenweise auch gegen die Existenz des Staates selbst sein sollte (je nachdem, wer sich dieser Bewegung zugehörig fühlte oder ihr zugeschrieben wurde), die jedoch viele demokratische Austausch- und Verständigungsprojekte gestoppt hat, aber auch von politischer Seite dazu genutzt wurde, legitime Kritik zu verhindern. Darauf aufbauend diskutierte er linke Positionierungen, die innerhalb kürzester Zeit innere Konfliktlinien aufrissen und offenbarten.
“Über Israel reden” ist ein wichtiges Buch, welches Nuancen in der momentanen Debatte aufzeigt (worüber auch immer eigentlich geredet wird), die gerade, weil diese Themen so identitätsstiftend und moralisch sind, untergehen. Wenn es aber um die Leben Unschuldiger geht, die täglich hungern müssen, keinerlei medizinische Unterstützung erhalten oder direkt sterben, sind diese Nuancen lebensrettend. Deswegen möchte ich das Buch allen empfehlen, die sich (genauso wie ich) überfordert fühlen, nicht wissen, ob oder auf welche Demo sie gehen sollen, oder einschätzen können, wer von welchem Argument profitiert. Das Buch ist einfach geschrieben, verliert dabei aber nicht an Komplexität. Gerade jetzt ist es ein geeignetes Buch zum verschenken.
- Autor: Meron Mendel
- Titel: Über Israel reden – Ein deutsche Debatte
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- Erschienen: 2023
- Einband: Hardcover
- Seiten: 224
- ISBN: 978-3-462-00351-2
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 13/15 dpt