László Darvasi – Herr Stern (Buch)

Von dem 1962 geborenen ungarischen Schriftsteller László Darvasi wurden die meisten Bücher ins Deutsche übersetzt. Unter dem Titel “Herr Stern” sind 2006 fünf Novellen erschienen, die dem Genre der phantastischen Literatur zuzurechnen sind – jenem Bereich unrealistischen, oft unheimlichen Erzählens also, in dem die Grenze zwischen Realität und Phantasie bewusst verwischt und möglichst selten klar gezogen wird.

Darvasi erzählt von Verbrechen, Reisen in unheimliche Städte, in denen die Protagonisten ihr eigentliches Ziel vergessen, von dem Privatgelehrten Stern, der nach und nach seinen Wortschatz einbüßt, dem magischen Manuskript eines spanischen Dichters, den die Inquisition verfolgt, und dem Tagebuch eines bohemienhaften Medizinstudenten. Die Geschichten sind sehr unterschiedlich lang und fesseln anfangs schon durch diese Ungewissheit, in welche Welt man eigentlich hineingerät. So lässt Darvasi offen, wann wir uns in vormodernen Zeiten, wann im zwanzigsten Jahrhundert bewegen: Gaukler, Comics, Droschken und Sägemaschinen (die natürlich Anlass zu Unfällen geben) koexistieren, ohne dass es zu Brüchen im selben Text kommt.

Diese surreale Welt, durch die man sich mit bewundernswert lebendigen Figuren bewegt, ist kafkaesk und finster, unentschieden zwischen Horror, Märchen und Legende. Darvasi ist ein Meister der Atmosphäre und des Abseitigen, sein Buch ist voller starker, aparter Details: “Und auch unter der Brücke wird kein Sand für die Gewürzfabrik geladen”, schreibt er etwa und evoziert damit ein Bild, sogar ohne etwas zu beschreiben. Es gibt “Taubensuppe”, “perlendes Minzewasser auf dem Nachtschränkchen”, “maurische Vogelfänger” und Hunde, die “blutige Groschen blank lecken”. Allein diese Aufzählung kann ahnen lassen, dass der Autor es damit manchmal übertreibt. Seine von Alchimisten, Mördern, handfesten Wirten und geheimnisvollen Damen bevölkerten Tableaus wirken etwas zu erfunden und erlesen.

Insofern ist Darvasis Stärke, sein Erfindungsreichtum, manchmal seine Schwäche. Auch als findiger Stilist erliegt er der Versuchung, sich auf seine oft tatsächlich schönen Sätze zu verlassen. Die Handlung mindestens zweier “Novellen” – einer Textsorte eigentlich, zu der ein cleverer Plot gehört – wirkt undurchdacht; die letzte lässt auch den vor- und zurückblätternden Leser nach achtzig Seiten mäandernder Geheimnisse, Exkurse und Andeutungen verwirrt zurück. Wohl deshalb stehen die logisch kompaktesten Erzählungen, “Die seltsame Geschichte des Ungeheuers von Müttenheim”, die an Poe und Borges erinnert, und “Der Kleophas-Comic”, vielleicht der beste Text, am Anfang des Bands.

Auch Davarsis Sprache entschädigt nicht immer, sie verärgert auch. Neben wunderbaren Sätzen (“Der Schimmel der Dämmerung überzog die Deckel und dicken Rücken der Bücher” oder “Am Vortag herrschte klirrende Kälte und rasierte die Gesichter rot”) stehen peinliche Manierismen (“Sehr genau sehe ich den Treffpunkt der Schenkel, dieses schüchterne kleine Gestrüpp, das Wollen dieser halbschwarzen Ungewißheit stößt gegen mein Herz”). Beiden liegt die riskante Ambition des Autors zugrunde, möglichst keinen einzigen gewöhnlichen Satz zu sagen. Vom virtuos gebrauchten Mittel kippt der Stil jedoch zum prahlerischen Selbstzweck. Gerade in der zweiten Hälfte des Buches verspürte der Rezensent eine wachsende Ungeduld mit Darvasis oft unsauberer Satzklöppelei.

Im Guten wie im Schlechten übertrifft dieser Autor spielend den durchschnittlichen Gegenwartsschreiber, und es bleibt dem persönlichen Geschmack überlassen, ob man Gutes oder Schlechtes mehr gewichtet. Doch welcher Erzählband kommt ohne schwache Texte aus? In “Herr Stern” jedenfalls finden Freunde des poetisch Finsteren und alptraumhaft Verspielten zwei bis drei sehr lesenswerte, passagenweise virtuos geschriebene Erzählungen in originellen Welten, die eins gewiss an keiner Stelle sind: alltäglich.

  • Autor: Lásló Darvasi
  • Titel: Herr Stern. Novellen
  • Teil/Band der Reihe: edition suhrkamp 2476
  • Originaltitel: A Kleofás-képregény; Szerelmem, Dumumba elvtársnö
  • Übersetzer: Heinrich Eisterer
  • Verlag: Suhrkamp
  • Erschienen: 2006
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 226
  • ISBN: 978-3-518-12476-5
  • Sprache: Ungarisch

Wertung: 9/15 dpt

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