Abgründe in der Provinz
In der Nacht vom 17. auf den 18. Dezember 19999 findet eine Teenagerparty statt. Darunter die unzertrennlichen Freunde Sander Eriksson und Killian Persson sowie deren Schulfreunde Mikael Söderström und Jakob Lindell. Zwischen Mikael und Jakob kommt es zu einem handfesten Streit, am nächsten Morgen ist Mikael tot. Erschlagen, im Kofferraum eines Autos liegend, das der Mutter der vielumschwärmten Felicia Grenberg gehört, die selbst bei der Feier fehlte.
Gerd Pettersson und Siri Bengsson von der Polizeiwache Oskarström übernehmen den Fall, der sie in das verschlafene Dorf Skavböke führt. Die vielen kleinen Höfe liegen auseinander, auf einem Feldweg wurde hier Mikael gefunden. Der Weg führt geradewegs zu Sanders Elternhaus, er und Killian müssen in der Nacht hier vorbeigekommen sein. Auch weitere Fuß- und Blutspuren deuten auf die beiden Freunde hin.
„Oder einer von ihnen lügt.“
„Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, von der ich aber hoffe, dass sie uns erspart bleibt.“
„Und zwar?“
„Dass alle lügen.
Ein Verkehrsunfall am ersten Weihnachtstag ändert jedoch alles und ein gewaltiger Erdrutsch nur wenig später, stürzt das ganze Dorf endgültig in den Abgrund. Der Mordfall Mikael Söderström bleibt ungelöst. Im Sommer 2021 kehrt Sander nach Skavböke zurück, Killians Vater wird beerdigt. Viele von damals sind nicht mehr übrig. Wenige Stunden nach der Beisetzung gibt es erneut einen Mord. Das Opfer: Filip, Mikaels jüngerer Bruder. Vidar Jörgensson aus Halmstad übernimmt den höchst ungewöhnlichen Fall, bei dem nichts ist wie es zu sein scheint.
Dritter Fall für Vidar vom schwedischen Krimistar
Für „Der Turm der toten Seelen“ (erster Fall für Leo Junker) erhielt Christoffer Carlsson den Schwedischen Krimipreis 2013. Da war er gerade 27 Jahre alt, jünger war kein Preisträger bis heute. Nach der Leo-Junker-Reihe startete die Vidar-Reihe mit „Unter dem Sturm“ und „Was ans Licht kommt“. Der vorliegende dritte Fall erhielt zehn Jahre nach Carlssons Debüt ebenfalls den Schwedischen Krimipreis (2023) und dies völlig zu Recht.
Wie schon bei den beiden Vorgängern gibt es einen Mord, der lange zurückliegt und erste Jahrzehnte später seine Auflösung findet. Gerd ist im Ruhestand, Siri hat schon lange den Polizeidienst quittiert und die verbliebenen „Zeugen“ sind weiterhin Gefangene ihrer eigenen Gefühle, Verstrickungen und Lügen. Schon damals zeigten sich unmittelbar nach Mikaels Tod große Risse und Abgründe hinter den Fassaden bürgerlicher Wohlanständigkeit. Gewalt und Verrat war und ist in Skavböke allgegenwärtig, wurde aber eine Zeit lang unter der Oberfläche gehalten.
Carlsson erzählt seine Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, wobei die Hauptfigur bezeichnenderweise nicht Vidar (erster Kurzauftritt auf Seite 214, erst ab Seite 253 steigt er verstärkt in die Handlung ein), sondern Sander ist. Er ist die tragischste unter vielen tragischen Figuren, denn Verfehlungen und moralische Verwerfungen sind omnipräsent und machen selbst vor Polizisten und Geistlichen nicht halt.
Geschickt arbeitet Carlsson mit zahlreichen Rückblenden und Versatzstücken, die hohe Leseaufmerksamkeit erfordern. Tief und literarisch anspruchsvoll dringt der Autor in das Innenleben seiner Figuren ein und entfaltet dabei einen furiosen Mix aus Krimi und Coming of Age. Freundschaft, Macht, Liebe, Besessenheit und Verrat; die Grenzen sind fließend und kaum durchschaubar. Es grenzt an eine Wunder, dass bei dieser zerbrechlichen Achterbahnfahrt, die bis zum Schluss ihre Überraschungen bereithält, der Autor den Überblick hat. Nicht zu Unrecht gilt Christoffer Carlsson als derzeit bester schwedischer Krimiautor, wobei er auch international ganz vorne mit dabei ist. Hut ab!
- Autor: Christoffer Carlsson
- Titel: Wenn die Nacht endet
- Originaltitel: Levande och döda Aus dem Schwedischen übersetzt von Ulla Ackermann
- Verlag: Kindler
- Umfang: 464 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: Mai 2024
- ISBN: 978-3-463-00061-9
- Produktseite
Wertung: 13/15 dpt