Geschichtsstunde auf höchstem Niveau
Nachdem im Sommer 1940 (vom 10. Mai bis 25. Juni) die Deutsche Armee in einem Blitzfeldzug die Hälfte Frankreichs erobert und besetzt hatte, verloren Tausende von Exilanten von jetzt auf sofort ihren Zufluchtsort vor dem Nazi-Regime.
Unter ihnen befanden sich zahlreiche Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Kunstschaffende, Philosoph:innen und Journalisten, oft auch jüdischer Abstammung. Egal ob mit oder ohne prominenten Namen, das Überleben dieser Menschen hing auf einmal von der Frage ab, ob ihnen eine Flucht aus Europa gelingen würde.
Angesichts dieser Notlage, in die Tausende geraten waren, machte sich ein Amerikaner namens Varian Fry auf den Weg nach Marseille, um mit anderen mutigen Menschen, die dringend notwendige Rettung zu organisieren. Mit dem „Emergency Rescue Committee“ (ERC) wurde unter Fry eine Organisation ins Leben gerufen, die von August 1940 bis Juni 1941 Tausenden zur Flucht in die USA oder nach Südamerika verhalf.
Dieser Ausnahmeleistung hat Uwe Wittstock mit seinem historischen Sachbuch „Marseille 1940“ nun ein verdientes literarisches Denkmal gesetzt. Sein Sachbuch ist empathisch und spannend geschrieben, wie ein Roman. Mit sicherem Überblick dirigiert er die zahlreichen Handlungsfäden. Die Fülle der zusammengetragenen Fakten ist beeindruckend.
Wittstock hat die unzähligen Fluchtgeschichten und das Fakten-Chaos hunderter Einzelschicksale in akribischer Recherchearbeit zusammengetragen und in seinem Buch in eine chronologische Abfolge gebracht, um den Lesern die dramatische Zuspitzung der Ereignisse nahezubringen.
Bei jeder einzelnen Fluchtgeschichte geht es buchstäblich um Leben und Tod. Die Besetzungsliste liest sich wie ein „Who is who“ der damaligen Kunst- und Kulturszene, unter ihnen Anna Seghers, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Hanna Arendt, Walter Benjamin, Rudolf Breitscheid, Franz Werfel und viele mehr.
Doch der Autor porträtiert nicht nur die Geretteten, sondern auch die Helfer und Helferinnen des ERC-Netzwerkes um Fry, von denen einige durch ihren Mut und ihr Engagement besonders herausragen. Das alles zusammengenommen macht das Buch zu einem Denkmal der Menschlichkeit.
Die brennende Aktualität dieses Geschichtsbuchs wird einem angesichts der desaströsen weltpolitischen Lage bei der Lektüre immer wieder schmerzhaft vor Augen geführt. Die Konflikte und Notlagen nehmen weltweit wieder zu. Damals wie heute sind Flüchtende, aber auch Fluchthelfer, ständigen Repressalien ausgesetzt. Man denke nur an die polemisch aufgeheizten Debatten in Politik und Medien, die das Thema Flüchtlingspolitik begleiten.
Wittstock schildert ausführlich die teilweise absurden bürokratischen Hürden, mit denen den Betroffenen der Weg in die Sicherheit verstellt wurde. Er macht Situationen nachvollziehbar, in denen Menschen ihre Papiere vernichteten, um sich aus einer akuten Notlage zu befreien. Ein Vorwurf, der unserer Tage populistisch immer wieder aufgenommen wird, um Flucht zur illegalen Tat umzumünzen.
Wittstocks Buch ist vieles: akribisch recherchierte und hervorragend vorgetragene Geschichtsstunde, informative und unterhaltsame Lektüre, empathisches Erinnern und Mahnen. Oder ganz einfach auf den Punkt gebracht: Eine absolut empfehlenswerte Lektüre!
- Autor: Uwe Wittstock
- Titel: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur
- Verlag: C.H. Beck Verlag
- Erschienen: Februar 2024
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 351 Seiten
- ISBN: 978-3406814907
Wertung: 15/15 dpt